Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Wand«, rief die Frau und schleuderte Celia beim Sprechen Spucketröpfchen ins Gesicht. »Immer!«
»Ruhe da drüben! Was soll ’n der Lärm? Hört auf zu keifen!«, protestierten einige Frauen, die von dem Geschrei geweckt worden waren.
»Leckt mich!«, schnauzte die betrunkene Frau zurück.
»Das hättest du wohl gern, Heather«, lachte jemand. »Und jetzt halt die Klappe!«
Celia hatte in der Zwischenzeit rasch ihr Bettzeug und den Koffer genommen und sich in das leere Bett gelegt. Sie wollte keinen Aufruhr verursachen, und letztlich war es ihr egal, wo sie schlief. Solange sie ein Bett hatte. Auch wenn sie es bedauerte, die angewärmte Matratze verlassen zu müssen.
»Na, geht doch«, meinte Heather triumphierend und setzte sich auf die Kante des eroberten Bettes. »Und lass dich nicht von den Bettwanzen beißen.«
FREITAG, 19. OKTOBER 1888
4
Am nächsten Morgen bekam Celia Schwester Florence zum ersten Mal zu Gesicht und war überrascht, wie jung der weibliche Captain war. Celia schätzte sie auf vielleicht fünfundzwanzig Jahre. Wie alle anderen Soldatinnen des Heils, die sich selbst Salutistinnen nannten, trug auch Florence Soper Booth eine schlichte dunkelblaue Uniform und eine schwarze Haube aus Strohgeflecht. Dass sie als Captain den anderen Mitgliedern der Heilsarmee vorstand, war lediglich an den zwei Sternen auf ihrem Kragen zu erkennen. Captain Florence trat während des Frühstücks, das aus Brot, Milch und Porridge bestand, an Celia heran und begrüßte sie herzlich. Sie wiederholte im Grunde das, was Esther in der Nacht bereits gesagt hatte, wies jedoch mit blumigen Worten darauf hin, dass viele der anwesenden Frauen tagsüber mit Handarbeiten und Hausdiensten beschäftigt seien und Celia eingeladen sei, ihnen zur Hand zu gehen. Captain Florence erklärte ihr, dass die Frauen Lumpen, Stoffreste und abgelegte Kleidung sammelten und die schadhaften Sachen anschließend ausbesserten oder zu neuen Kleidern verarbeiteten, um sie entweder an die Bedürftigen im East End weiterzugeben oder auf dem nahen Petticoat Lane Market zu verkaufen; mit diesen Einnahmen sicherten sie den Unterhalt des Frauenasyls. Als Celia erwähnte, dass sie in Essex als Schneiderin und Näherin gearbeitet habe, und sich bereit erklärte, im Asyl zu helfen, bedankte sich Captain Florence geradezu überschwänglich, als hätte Celia ihr einen unfassbaren Gefallen getan. Sie griff sich theatralisch an die Brust und seufzte tief, bevor sie Celia einen Kuss auf die Wange gab, guten Appetit wünschte und sich abwandte.
Celia schaute dem Captain etwas irritiert hinterher und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie gerade einem eingeübten Schauspiel beigewohnt hatte.
»Wunder dich nicht!«, sagte eine etwa zwanzigjährige Frau auf der anderen Seite des Tisches. »Die ist immer so.«
Celia erkannte die heisere Stimme und fragte: »Du bist Heather, stimmt’s?«
»Woher weißt du das?«
»Du hast mich letzte Nacht aus dem Bett verjagt.«
»So, hab ich das?« Die junge Frau lachte und fuhr sich durch die langen dunkelblonden Haare, die ihr in fettigen Strähnen auf den Rücken fielen. »Kann mich nicht erinnern. Hab ein wenig über den Durst getrunken. Die alte Esther wollte mich erst gar nicht ins Haus lassen. Alte Zimtzicke!«
»Ich dachte, Alkohol ist im Heim verboten.«
»Hab ja nicht hier drinnen gesoffen«, rief Heather fröhlich, schnalzte mit der Zunge und reichte Celia die Hand. »Du willst hoffentlich keine von den Überkandidelten werden?«
Celia schüttelte die Hand und fragte: »Wen meinst du?«
»Na, die Betschwestern hier.« Sie deutete auf die Handvoll Salutistinnen, die zwischen den vollbesetzten Tischen hin und her liefen oder am Herd den Haferbrei und die warme Milch austeilten. »Haben sie dich schon geködert? Pass bloß auf! Ehe du dich versiehst, bist du eine von ihnen, schlägst die Trommel und singst fromme Kriegslieder, während du durch die Straßen marschierst.«
Celia hob die Achseln und fragte: »Warum bist du hier, wenn’s dir nicht gefällt?«
»Ist immer noch besser, als auf der Straße zu schlafen«, antwortete Heather und schob die Unterlippe vor. »Aber in die bescheuerte Heilsarmee kriegen mich keine zehn Pferde. Da können sie Suppe ausschenken, so viel sie wollen.«
»Jetzt tu mal nicht so dicke«, mischte sich eine ältere Frau neben ihr ein. Sie wandte sich an Celia, wies dabei aber mit dem Löffel auf Heather. »Unsere feine Heather hier hat früher die Beine breit gemacht,
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