Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
folgte der alten Frau ins Haus.
»Bis morgen«, hörte sie Adam draußen sagen, dann fiel die Tür ins Schloss.
»Willst du Suppe?«, meinte die Alte und ging weiter, ohne auf eine Antwort zu warten. »Oder Tee? Ist noch was vom Abend übrig.«
Celia nickte, folgte ihr durch die schmale Eingangshalle und bestaunte ein Spruchband, das über einer Tür angebracht war. »Suppe, Seife, Seelenheil«, stand darauf geschrieben, was Celia wider Willen erneut zum Lachen brachte.
»Was gibt’s da zu kichern?«, knurrte die Alte. »So ist es nun einmal. Ein hungriger Mensch hat anderes im Sinn, als seine Seele zu retten. Also füttern wir ihn. Ein dreckiger Mensch ist voller Scham und deshalb nicht für die Frohe Botschaft zugänglich. Also waschen wir ihn. Erst danach kann das Wort Gottes wirken. Setz dich!« Sie war durch die Tür in die Küche getreten und deutete nun auf einen langen Tisch, an dem mindestens ein Dutzend Menschen Platz finden konnte.
Während sich die Schwester am Herd zu schaffen machte, auf dem ein riesiger gusseiserner Kessel stand, schaute Celia sich um. Ein weiterer langer Tisch stand an der gegenüberliegenden Wand, in einem Bottich in der Ecke erblickte sie die dreckige Lauge vom letzten Abwasch.
Celia wunderte sich, dass die Frau, die sich als Esther vorstellte, überhaupt nichts über sie wissen wollte. Sie erkundigte sich nach Celias Namen und Alter, doch davon abgesehen stellte sie keine Fragen, sondern kümmerte sich schweigend um das Feuer im Ofen und stellte schließlich einen Teller dampfende Kartoffelsuppe und eine Tasse Tee vor Celias Nase. »Hier ist schon mal die Suppe«, sagte sie und lachte schnarrend. »Um deine Seele kümmern wir uns später.«
Als Celia sich nach den Hausregeln erkundigte, zuckte Esther mit den Schultern und meinte: »Es reicht, wenn du dich an die Zehn Gebote hältst. Ach ja, und keine Männer, keinen Tabak und keinen Alkohol! Ansonsten fordern wir nichts, was du nicht freiwillig geben willst.«
»Ich muss tatsächlich nichts bezahlen?«, wunderte sich Celia.
»Über Spenden freuen wir uns natürlich, aber das ist keine Pflicht«, antwortete Esther. »Wenn du für unser Asyl arbeiten oder Soldatin des Heils werden willst, würde uns das ebenfalls glücklich machen. Wenn nicht, wirst du deswegen aber nicht geringer geachtet. Dies ist kein Arbeitshaus. Und falls es dir bei uns nicht gefällt, steht es dir jederzeit frei zu gehen. So hat es Schwester Florence bestimmt, und daran halten wir uns.«
»Ist sie nun deine Schwester oder dein Captain?«, fragte Celia, während sie die Kartoffelsuppe mit Heißhunger verschlang und sich gleichzeitig Mühe gab, dabei nicht zu gierig zu wirken.
»Warum muss das ein Gegensatz sein?« Esther zog die Augenbrauen zusammen und deutete durch die Tür zum Treppenhaus. »Unterm Dach ist noch Platz. Komm hoch, wenn du fertig bist. Ich zeig dir dann deine Bettstelle.«
In diesem Bett lag Celia nun und konnte kaum begreifen, dass seit ihrer Ankunft in London gerade einmal sechs oder sieben Stunden vergangen waren. Durch eine kleine Luke in der Dachschräge sah sie den beinahe vollen Mond, und ein dünner Lichtstreifen fiel auf den Sinnspruch über ihrem Kopf: »Bist du bereit zu sterben?«. Celia hatte Esther gefragt, was es mit dieser seltsamen Frage auf sich habe, und die alte Frau hatte geantwortet: »Sei bereit, wenn dein Herr dich ruft! Und lebe immer so, als wäre der heutige Tag dein letzter und als müsstest du dich im nächsten Augenblick vor Gottes Gericht verantworten. Wenn du bereit bist, kann dir nichts geschehen.«
Celia hoffte inständig, dass heute nicht der letzte Tag in ihrem Leben wäre. Noch nie hatte sie sich so einsam und elend gefühlt, noch nie hatte sie so viel Angst und Verzweiflung gespürt, noch nie war sie sich so verloren vorgekommen.
»Raus da!«, hörte sie im nächsten Augenblick eine heisere Frauenstimme direkt über sich. »Das ist mein Bett!«
Als Celia die Augen aufschlug, sah sie einen Schatten über sich, und sie spürte, wie eine Hand an ihrer Schulter zerrte.
»Was ist denn?«, fragte Celia. »Was ist los?«
»Du liegst in meiner Koje«, keifte eine Frau, deren Atem nach Alkohol und Galle roch. Sie kam Celia im nächsten Moment so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten, nur um gleich darauf wieder zurückzuschwanken.
»Leg dich doch dorthin«, schlug Celia vor und deutete auf das freie Nachbarbett. »Kommt doch aufs Gleiche raus.«
»Ich lieg immer an der
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