Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
nur um irgendwo schlafen zu können oder ein Stück Brot zu bekommen, und jetzt sitzt sie auf’m hohen Ross und rümpft die Nase, als wär sie was Besseres!«
»Wer sagt denn, dass ich’s nicht immer noch mache?«
»Was?«, fragte die Frau.
»Die Beine breit«, rief Heather und lachte anzüglich. »Wenn’s juckt, soll man sich kratzen. Oder kratzen lassen.«
»Du solltest dich schämen!«, sagte die Frau, nahm ihre leere Schüssel, stand auf und ging fort.
»Blöde Kuh!«, schimpfte Heather leise und zog eine Grimasse. Dann wandte sie sich an Celia und fragte: »Was machst du hier? Bist nicht aus London, oder?«
»Du etwa?«, antwortete Celia mit einer Gegenfrage. Der Aussprache nach zu urteilen, kam Heather aus dem Norden Englands. Celia war überhaupt aufgefallen, dass im East End lauter Einwanderer und Zugezogene zu wohnen schienen. Auch in dieser Küche, in der etwa dreißig Frauen frühstückten und sich schmatzend unterhielten, war eine Vielzahl von englischen Dialekten, ausländischen Akzenten und ungewöhnlichen Sprachfärbungen zu hören. Vor allem Irinnen waren zahlreich vertreten.
»Suchst du Arbeit?«, wollte Heather wissen und hob das Kinn. »Kannste vergessen. Von dem Hungerlohn, der hier gezahlt wird, kann kein Mensch leben. Außer man macht zusätzlich die Beine breit.«
»Ich suche meinen Vater«, antwortete Celia und starrte auf ihren Teller.
»Ach, wie niedlich«, mokierte sich Heather. »Papas Liebling, was?«
Celia zuckte wie unter einem Nadelstich zusammen. Sie wollte etwas erwidern, doch dann wurde ihr klar, dass Heather es nur darauf abgesehen hatte, sie zu provozieren oder lächerlich zu machen. Darum hielt sie den Mund, schlug die Augen nieder und machte es der älteren Frau nach: Sie stand auf und verließ grußlos den Tisch.
»Wunder Punkt!«, frohlockte Heather. »Wusste ich’s doch: Papas Liebling!«
»Dumme Kuh!«, murmelte Celia und ging hinaus.
Celia fühlte sich fremd in der ungewohnten Umgebung und war doch froh, etwas zu tun zu haben und das Frauenasyl vorerst nicht verlassen zu müssen. Wohin sollte sie auch gehen, an wen sollte sie sich wenden? Sie kannte niemanden in London und verspürte nicht die geringste Lust, sich wie eine Müßiggängerin die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt anzuschauen. Das wäre ihr ungehörig erschienen, auch wenn es sie ja keinen Penny gekostet hätte, sich jene berühmten Gebäude und Denkmäler aus der Ferne anzusehen, von denen ihre Mutter so oft erzählt hatte. Nein, solange sie nicht wusste, was sie tun sollte und wohin ihr Weg sie führen würde, war es ihr nur recht, mit den anderen Frauen im Arbeitsraum im Erdgeschoss zu sitzen und Kleider zu nähen. Außerdem bekamen alle Frauen, die den Heilsarmistinnen tagsüber zur Hand gingen, neben dem Frühstück und Abendessen, das allen bedürftigen Gästen des Hauses zustand, eine warme Mittagsmahlzeit. Der dünne Linseneintopf, der heute ausgeschenkt wurde, schmeckte zwar fad und muffig, mundete Celia aber dennoch, weil sie dafür gearbeitet und ihn nicht als Almosen erhalten hatte.
Celia war eine gute Schneiderin und mochte diese Art von Arbeit, die ihr die Möglichkeit bot, vor sich hin zu träumen. Wären die Probleme im wirklichen Leben doch nur ebenso einfach zu beheben wie ein durchgescheuerter Ärmel oder eine gesprengte Naht. Könnte man seinem Schicksal oder seinem Lebensweg bloß mit Nadel, Fingerhut und Faden beikommen!
Während sie mit geschickten und flinken Fingern den Stoff bearbeitete und nach Vorgabe der Heilsarmistinnen flickte, stopfte und ausbesserte, überlegte sie, wie sie nun weiter vorgehen sollte. Denn dass ihre überstürzte Reise nach Southampton und die ebenso unüberlegte Weiterfahrt nach London eine Dummheit gewesen waren, lag auf der Hand und war ihr längst klar geworden. Es fragte sich nur, ob eine Rückkehr nach Brightlingsea sinnvoll und erstrebenswert war. Auch an der Küste von Essex wartete niemand auf sie. Sie hatte kein Zuhause mehr. »Dann such dir ein neues«, hatte Mr. Egerton, der Wirt in Southhampton, gesagt.
Die Suche nach dem verschollenen Vater war jedenfalls zwecklos. Das hatte sie bereits am gestrigen Abend erkannt, auch wenn sie Heather gegenüber heute Morgen etwas anderes behauptet hatte. Ned Brooks war eine Fantasievorstellung gewesen, ein Trugbild, wie eine dieser seltsamen Fata Morganas, von denen sie in dem langen Zeitungsartikel gelesen hatte, den ihre Mutter ebenfalls in der Emailledose aufbewahrt hatte.
Anfangs hatte
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