Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
bewegen.«
»Warum ausgerechnet hier?«, fragte Celia und schaute zum Eingang der Schänke, vor dem sich bereits zu dieser frühen Nachmittagsstunde etliche Männer lärmend, trinkend und rauchend versammelt hatten. »Das Lokal sieht nicht gerade nach einem Treffpunkt für eifrige Kirchgänger aus.«
»Das ist es ja eben!«, rief Adam frohlockend. »Der General hat uns aufgetragen, die Frohe Botschaft Jesu genau dorthin zu tragen, wo sie am bittersten benötigt wird. Nicht in die feinen und reichen Häuser, nicht in die frommen Betkreise, nicht in die Kirchen und Gemeindesäle, sondern zu den Trinkern, Huren und Bettlern. In die Kneipen und Bordelle. Zu den Leuten, die aus jeder Kirche gewiesen würden, weil sie in ihrem Elend angeblich dem Herrn nicht zur Ehre gereichen.«
Celia zog die Augenbrauen zusammen. Wirklich überzeugend hörte sich das in ihren Ohren nicht an.
Adam schien ihre Skepsis zu bemerken und fuhr wie ein Prediger fort: »Schwester Eva hat einmal gesagt: ›Geht mit der vollen Gießkanne nicht zur Regentonne, sondern zum ausgemergelten Boden, damit alles sprieße und gedeihe!‹ Verstehst du, was sie damit gemeint hat?«
Natürlich verstand Celia, aber zugleich dachte sie an den weißen Dünensand am Südufer des Brightlingsea Creek, den man so viel wässern konnte, wie man mochte, und der dennoch immer unfruchtbar bleiben würde. Diese Männer vor dem Ten Bells, die sich bereits am helllichten Tag betranken und Celia hinterherpfiffen, obwohl sie in Begleitung eines Mannes die Schänke passierte, waren wie dieser Dünensand. Und eine bloße Predigt würde sie nicht von ihrem unmoralischen Tun abhalten.
»Verstehst du?«, wiederholte Adam.
»Sicher«, antwortete Celia zaghaft. Und um Adam eine Freude zu machen, fragte sie: »Wann geht’s los? Ich würde Schwester Eva gern reden hören.«
»Heute Abend um sechs«, antwortete er strahlend und führte sie durch eine schmiedeeiserne Gittertür auf den neben der Kirche gelegenen Friedhof von Christ Church. »Soll ich dich in der Hanbury Street abholen?«
Celia nickte und wollte dann fragen, warum er sie ausgerechnet auf einen Totenacker führte, doch als sie den umfriedeten Hof betrat, verschlug es ihr beinahe den Atem. Der Friedhof erinnerte an einen verwunschenen Garten und wirkte inmitten des Lärms, des Schmutzes und der Betriebsamkeit der Nachbarschaft wie eine friedliche Oase. Die hohen Mauern hielten die Geräusche der angrenzenden Hauptstraße fern, überall wucherten Efeu und andere Rankenpflanzen, Moose und Farne bedeckten den Boden. Die uralten und windschiefen Bäume wirkten inmitten der verwitterten Grabsteine und Denkmäler wie Zauberwesen.
Sie setzten sich auf eine Bank, die ein wenig feucht und grün angelaufen war. Adam wollte ein Taschentuch über die hölzernen Leisten legen, damit Celia sich nicht schmutzig machte, doch sie winkte dankend ab. Es wäre ihr unangenehm gewesen. Nach dem Austausch einiger belangloser Höflichkeiten erzählte Celia ihrem Begleiter, was sie in den letzten Tagen und Wochen erlebt und warum es sie von Essex nach London verschlagen hatte. Adam nickte mitfühlend oder schüttelte ergriffen den Kopf, als sie von ihren Erlebnissen in Southampton berichtete. Bei der Erwähnung des Kuriositätenkabinetts The Silver King und des Namens Tom Norman hob er bedauernd die Schultern. Er habe diese Namen noch nie gehört, sagte er, allerdings habe er vor vier Jahren auch noch ein völlig anderes Leben als heute geführt. Irgendetwas Seltsames schwang in diesen Worten mit; Celia glaubte für einen Moment, ein nervöses Zucken in seinen Mundwinkeln zu sehen. Sie wechselte das Thema und berichtete, dass sie dringend Geld verdienen musste, um nach Hause fahren zu können. Als sie Heathers Bemerkung über die Hungerlöhne in London wiederholte, nickte Adam nachdenklich und griff nach Celias Hand.
»Da hat sie leider recht«, sagte er und tätschelte ihre Finger wie die eines kleinen Kindes. »Du magst noch so geschickt sein, gegen die Näh- und Webmaschinen in den Fabriken kannst du nicht anarbeiten.«
»Ich kann auch mit der Maschine nähen«, wandte Celia ein.
»Das glaube ich dir sofort«, antwortete er. »Aber genau diese Maschinen diktieren die Preise, und weil sich so viele arbeitslose Frauen um die wenigen freien Plätze in den Fabriken streiten, ist die Arbeit der Näherinnen nichts mehr wert. Jedenfalls nicht, wenn man es mit den Augen der Fabrikbesitzer sieht.«
»Was soll ich nur tun?«, entfuhr es
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