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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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wirres Zeug geredet.« Er schmunzelte bei der Erinnerung daran und meinte: »Er hat behauptet, er wär in Spitalfields ’nem anderen Verrückten begegnet und der hätte ihm mitten in der Nacht im Bett aufgelauert und ihm einen Schlag verpasst. Darum hätte er Reißaus genommen.«
    »Was soll der Unfug?«, fragte ich, unschlüssig, was ich von Grays Ausführungen halten sollte.
    »Das hab ich ihn auch gefragt«, antwortete Gray nickend, »aber er hat drauf bestanden, dass es genauso gewesen sei und dass ich es Ihnen ausrichten soll, sobald Sie wieder da sind. Er wär jetzt wieder in St. Giles, hat er gesagt, weil’s ihm in Spitalfields zu gefährlich ist.«
    »Sie haben ihn also im Arbeitshaus wieder aufgenommen?«, fragte ich.
    »So hat er’s gesagt, Boss. Und dass Sie sich vorsehen und unbedingt Miller’s Court meiden sollen! Weil sie einem da in der Nacht auflauern.«
    »Bist du sicher, dass er nicht betrunken war?«, wunderte ich mich.
    »Lässt sich bei Säufern natürlich schwer einschätzen«, antwortete Gray fachkundig und schob die Unterlippe vor. »Meinem Alten hat man’s auch nicht angesehen. Erst wenn er einen verdroschen hat, wusste man, dass er was intus hatte. Aber dann war’s immer schon zu spät.«
    Ich schaute auf die Uhr. Es war inzwischen kurz nach vier am Nachmittag. Mein Vater würde noch einige Stunden unterwegs sein. Maureen Watson hatte ich gesagt, dass ich am Freitagmorgen wieder nach Celia schauen würde. Und meinem Bruder William wollte ich im Moment auch nicht unter die Augen treten. Also blieben Simeon Solomon oder Eva Booth!
    Die Wahl fiel mir nicht schwer, auch weil die Gefahr, der Simeon angeblich ausgesetzt gewesen war, nach seiner Rückkehr ins Arbeitshaus von St. Giles nicht mehr bestand und ich zu gern gewusst hätte, was Miss Booth mit mir besprechen wollte. Nach unserer letzten Begegnung vor dem Gerichtsgebäude hatte ich nicht damit gerechnet, sie so bald wiederzusehen. Also winkte ich ein Hansom Cab heran, das gerade auf der Piccadilly in östlicher Richtung fuhr.
    »Boss?«, hörte ich Gray hinter mir. »Mir ist noch was eingefallen.«
    »Ja?«, sagte ich, während ich den Verschlag des Cabs öffnete.
    »Es sind doch zehn.«
    »Zehn?«, fragte ich und schaute ihn verwirrt an. »Wovon redest du?«
    »Von den Glocken von Christ Church«, sagte er, als wäre das ganz selbstverständlich. »Von der fehlenden zehnten Glocke.«
    Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wovon er sprach. Ten Bells! Ich erinnerte mich dunkel an unser Gespräch in der Kneipe nahe der Guildhall und daran, dass Gray die Glocken der Kirche nachgezählt hatte: acht im Kirchturm und eine an der Tür.
    »Und?«, fragte ich. »Was oder wo ist die zehnte Glocke?«
    »Die Totenglocke«, sagte er mit ernster Miene. »Hab lange drüber nachgedacht. Es muss die Totenglocke sein.«
    »Worüber du dir immer den Kopf zerbrichst«, lachte ich und stieg in den Wagen.
    »Dachte, es interessiert Sie«, antwortete Gray enttäuscht.
    »Danke, Gray, dass du es mir verraten hast«, sagte ich und lächelte ihm aufmunternd zu. »Darauf wäre ich niemals gekommen.«
    »Ach, Boss!«, rief Gray und winkte bescheiden ab. »Glauben Sie mir, man muss nur lange genug nachdenken, dann fallen einem solche Sachen ein.«

4
    Diesmal hatte ich keine Mühe, zu Miss Booth vorgelassen zu werden, und das lag nicht nur daran, dass meine Kleidung im Unterschied zum letzten Mal nicht zerrissen und verschmutzt war. Kaum hatte ich am Empfang meinen Namen genannt, schon wurde ich von einem jungen Heilssoldaten über mehrere Treppen und einen langen fensterlosen, aber mit allerlei Spruchbändern versehenen Gang zu einem Büro im dritten Stock des Hauptquartiers gebracht. Ein schlichtes Holzschild hing an der Tür, darauf stand: »Captain Eva Cory Booth. Field Commissioner«.
    Eine ebenfalls uniformierte Sekretärin öffnete und geleitete mich in einen Nebenraum, an dem der Captain hinter einem Schreibtisch saß und ein bedrucktes Stück Papier mit handschriftlichen Notizen und Korrekturen versah.
    »Wie schön, dass Sie Zeit für mich hatten, Mr. Ingram«, sagte Eva, bedachte mich mit einem Lächeln, wies auf einen Lehnstuhl vor dem Tisch und widmete sich dann wieder ihrem Text. »Setzen Sie sich bitte. Ich bin gleich so weit.«
    »Eine Predigt?«, fragte ich und setzte mich.
    »Wir predigen nicht«, antwortete sie, ohne aufzublicken. »Wir berichten den Menschen von Gottes Liebe und Gnade.«
    »Das nenne ich eine Predigt«, antwortete ich

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