Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
sie. Auf den Mund. Nur kurz und kaum spürbar. Der Hauch eines Kusses.
Sie zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen und legte rasch ihre Hand auf meine Lippen, ohne sich dabei jedoch von mir zu entfernen oder den Blick abzuwenden. »Warum haben Sie das getan?«, fragte sie.
»Weil mir danach war.«
»Nicht«, sagte sie und wiegte den Kopf hin und her. »Tun Sie das nicht!«
»Warum nicht?«
»Weil ich Sie darum bitte«, sagte sie und machte einen Schritt zurück. Sie hob abwehrend die Hand und setzte mit ernster Miene hinzu: »Glauben Sie mir, es gibt tausend Gründe, warum Sie nichts Derartiges versuchen sollten, Rupert. Oder haben Sie vergessen, dass Sie verlobt sind?«
»Nicht mehr. Meine ehemalige Verlobte folgt ihrem Herzen und heiratet einen anderen. Ich wünsche ihr alles Glück der Welt.«
»Oh«, sagte sie und senkte den Blick. Es hatte beinahe den Anschein, als wüsste sie nicht, ob sie mich deswegen bemitleiden oder beglückwünschen sollte. Dann schaute sie mir plötzlich fest in die Augen und sagte: »Trotzdem! Das ändert nichts. Ich bin eine Offizierin der Heilsarmee, und als solche darf ich mich nur mit einem Offizier der Heilsarmee liieren, wie Sie vielleicht wissen.«
Das wusste ich nicht, deshalb schüttelte ich überrascht den Kopf.
»Es gibt so viel, das Sie nicht wissen und vermutlich niemals verstehen werden«, sagte sie und nickte, als freute sie sich regelrecht über meine Unwissenheit. »Sie haben keine Ahnung, wer ich wirklich bin und was ich fühle. Oder eben nicht fühle. Sie kennen mich überhaupt nicht.«
»Das ließe sich ändern, oder?«
»Nein!«, erwiderte sie und fuhr sich unwirsch mit der Hand über die Lippen. »Wir leben in unterschiedlichen Welten, Rupert. Selbst wenn ich die Gefühle erwidern würde, die Sie offenbar für mich empfinden oder zu empfinden glauben, wäre eine mehr als nur freundschaftliche Verbindung zwischen uns völlig undenkbar.« Und als müsste sie es sich selbst noch einmal bestätigen, wiederholte sie die letzten Worte: »Völlig undenkbar!«
»Warum haben Sie mich hergebeten?«, wiederholte ich meine anfängliche Frage. »Wieso wollten Sie mich sehen?«
»Das sagte ich bereits«, antwortete sie und schaute mich unsicher an. »Um mich bei Ihnen zu entschuldigen.«
Ich schnaufte ungläubig und schüttelte den Kopf.
»Sehen Sie, genau das meinte ich!«, rief sie und verdrehte ihre Augen wie über einen dummen Schüler, der sich weigert, seine Lektion zu begreifen. »Sie wollen nicht verstehen, und deshalb verstehen Sie nicht.«
»Oh, doch!«, antwortete ich und schaute ihr direkt in die Augen. »Ich verstehe sehr wohl.«
»Nein, das tun Sie nicht, Rupert!«, beharrte sie wie ein trotziges Kind und starrte zurück. »Sie begreifen gar nichts!«
Dann schwiegen wir und maßen uns mit Blicken.
Ein lautes Klopfen, das wie eine Gewehrsalve in meinen Ohren klang, brachte uns ins Hier und Jetzt zurück. Eva fuhr erschrocken herum. Wieder klopfte es an der Tür, und im nächsten Augenblick stand ein Mann mit grauem Vollbart im Raum und rief mit der übertriebenen Lautstärke eines Schwerhörigen: »Eva, da steckst du ja!«
»Mr. Ingram«, wandte sich Eva an mich, während sie gleichzeitig auf ihre Finger schaute. »Darf ich Ihnen den General vorstellen.« Sie räusperte sich verlegen und fügte etwas leiser hinzu: »Meinen Vater, William Booth.«
»Sehr erfreut, Sir«, sagte ich und reichte ihm die Hand.
»Mr. Ingram«, war alles, was er darauf antwortete. Er drückte abwesend meine Hand und wandte sich anschließend an seine Tochter: »Hast du den Text gelesen? Was hältst du von dem letzten Absatz? Kann das so bleiben?«
»Nicht gerade diplomatisch«, lautete ihre Antwort.
Während die beiden sich über Evas Korrekturen und Anmerkungen unterhielten, betrachtete ich den General neugierig und auch ein wenig eifersüchtig. William Booth war tatsächlich eine imposante Gestalt, nicht nur wegen der dunklen Uniform, die mit ihren Kordeln, Epauletten und Abzeichen tatsächlich an die eines Feldherrn erinnerte. Sein grauer Rauschebart, der bis auf die Brust reichte, erinnerte mich an denjenigen meines Vaters. Beim Anblick seiner wahrlich kolossalen Knollennase wusste ich auch, woher der einzige Makel in Evas hübschem Gesicht stammte. Ich war froh, dass sie nicht auch noch die wild wuchernden Augenbrauen und die fleischigen Ohren von ihm geerbt hatte.
»Sind Sie mit den Ingrams von den Illustrated London News verwandt?«, fragte der
Weitere Kostenlose Bücher