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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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war ein Naseweis und Neunmalklug, wie man ihn in seinem Alter nur selten erlebte. Er war seit frühester Kindheit mit der Gewissheit aufgewachsen, der Nachfolger des Seniors zu sein, und das merkte man dem Bengel an. Mit überheblicher Miene meinte er: »Tut mir leid, mein Lieber. Meredith ist nicht zu sprechen. Sie ist …«
    »Soll ich Mademoiselle Eugenie holen?«, fragte ich und packte ihn am Schlafittchen. »Und ihr sagen, wie du sie gerade genannt hast? Das würde dir bestimmt noch viel mehr leidtun, mein Lieber! «
    Das dünkelhafte Grinsen fiel ihm schlagartig aus dem Gesicht. Er wurde bleich und schüttelte den Kopf.
    »Also?«, fragte ich und schüttelte ihn. »Was ist hier los? Wo ist dein Vater? Und was ist mit Meredith? Spuck’s aus, Robert!«
    Hass sprühte aus seinen Augen. Mit unverkennbarer Genugtuung sagte er: »Meredith ist weg! Und zwar nicht allein.«
    »Ist dein Vater bei ihr?«
    »Vater ist hinter ihr her«, sagte Robert und grinste. »Und Bernard und James und alle anderen Dienstmänner auch. Um die beiden möglichst noch vor der Grenze zu erwischen.«
    »Die beiden?« Allmählich begriff ich, worauf der Kleine mit seinen hämischen Worten abzielte. »Wer ist bei ihr?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort zu kennen glaubte. »Nun red schon!«
    »Cousin Frederick natürlich«, triumphierte Robert. »Sie sind getürmt! Heute Nacht.«
    »Zur Grenze? Nach Schottland?«
    »Wohin sonst?«
    Wohin sonst! Ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht laut aufzulachen oder in Jubel auszubrechen. Die ganze Zeit hatte ich mir das Hirn zermartert, wie ich das Damoklesschwert der Heirat abwehren und mich aus Merediths ehelichen Fängen und Mr. Barclays geschäftlichen Verpflichtungen befreien könnte. Und zur selben Zeit hatte die gute Meredith nichts anderes im Sinn gehabt, als mich irgendwie loszuwerden. Doch während ich nicht den Mumm gehabt hatte, meinem Vater und den Barclays reinen Wein einzuschenken und den ganzen Unfug abzublasen, war Meredith mit ihrem Liebsten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geflohen. Um in Schottland zu heiraten. Auf Gedeih und Verderb. Ohne Rücksicht auf Verluste.
    Meinen Segen hatten sie!
    Gutes altes Schottland! Wo man Minderjährigen nach wie vor erlaubte, ohne Einwilligung der Eltern oder große Zeremonien zu heiraten! Zwar hatte man, soviel ich wusste, vor einigen Jahren die uralten Gesetze verschärft und es zur Bedingung gemacht, dass die Heiratswilligen sich zuvor einundzwanzig Tage in Schottland aufgehalten haben mussten, doch es war durchaus möglich, sich drei Wochen irgendwo auf dem Land vor den elterlichen Verfolgern zu verstecken, um dann auch gegen ihren Willen den Bund der Ehe einzugehen. Nicht einmal einen Priester oder Beamten brauchte man dafür, sondern lediglich zwei Zeugen, vor denen man gemeinsam das Ehegelübde ablegte. Und genau das hatten die beiden offensichtlich vor. Falls Mr. Barclay sie nicht vorher aufspürte und nach England zurückschaffte.
    »Woher weißt du, dass Cousin Frederick bei ihr ist?«, wollte ich wissen und versuchte dreinzuschauen, als wäre gerade meine Welt in sich zusammengebrochen. »Hat Meredith eine Nachricht hinterlassen?«
    Robert nickte und grinste.
    »Dieser Schuft!«, rief ich und versuchte, dabei niedergeschlagen und wütend zu klingen. »Dieser elende Schurke!«
    »Tja, Pech gehabt!«, rief Robert und lachte schadenfroh.
    Was für eine launenhafte Fügung des Schicksals! Ich war frei! Alle Unterschriften und mündlichen Verabredungen waren nichtig. Der Heiratstermin war hinfällig. Der drohende Umzug nach Southwark war abgewendet. Denn unabhängig davon, ob Meredith und Frederick tatsächlich heirateten oder vorher von Mr. Barclay gefunden wurden, niemand konnte nun noch von mir verlangen, Miss Wright Barclay zu ehelichen. Weil ein Telegramm wie durch einen Wink des Schicksals auf dem Weg von Dorking nach London verloren gegangen war, wusste ich jetzt Bescheid. Niemand konnte mich mehr für dumm verkaufen, wie es das bedauernswerte Dienstpersonal heute Morgen in Bury Hill hatte versuchen müssen. Jetzt musste ich nur noch dafür sorgen, dass alle Anwesenden mitbekamen, dass ich von dem Skandal und meiner vermeintlichen Schande wusste.
    Als ich die Schritte der immer noch nach Robert suchenden Französin in der Halle hörte, fuhr ich den unverändert grienenden Jungen übertrieben laut an: »Was gibt’s denn da zu lachen, du Rotzlöffel?«
    Robert fuhr erschrocken zusammen. Im nächsten Augenblick schon stand

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