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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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schmunzelnd und widerstand nur mühsam dem reflexhaften Verlangen, mir eine Zigarette anzuzünden.
    Zum ersten Mal sah ich Eva Booth ohne monströse Haube auf dem Kopf und konnte ihre rote Löwenmähne in ganzer Pracht bestaunen. Die Wunde an ihrer Stirn schien weitgehend verheilt, jedenfalls war unter dem Dickicht ihres Haars nichts davon zu sehen. Während sie schrieb, zog sie ihre Nase kraus und biss sich auf die Lippen. Es sah irgendwie ulkig aus.
    An der Wand hinter dem Schreibtisch hing eine riesige Fahne mit dem Emblem der Heilsarmee. Das Wappen erschien mir fürchterlich überfrachtet und wirr. Mit einer Krone, einem Strahlenkranz, zwei Schwertern, einem Kreuz, einem S für Salvation, sieben Punkten, die ich mir nicht erklären konnte, und der Inschrift »Blut und Feuer« wirkte das Ganze auf mich wie ein konfuses Sammelsurium von bunten Insignien und Symbolen. Zu viel des Guten!
    Schließlich hatte Eva ihre Notizen beendet, stand auf, kam um den Tisch herum und gab mir die Hand. »Guten Tag, Mr. Ingram«, sagte sie strahlend. »Ich freue mich, Sie zu sehen. Willkommen bei der Heilsarmee!«
    »Ich hoffe, dies soll kein Anwerbungsgespräch werden.«
    »Seien Sie unbesorgt«, antwortete sie lächelnd und zugleich ein wenig lauernd. »Wir zwingen niemanden zu seinem Glück. Gottes Gnade offenbart sich …«
    »Was genau ist eigentlich ein Field Commissioner?«, unterbrach ich sie unhöflich, bevor sie in ihren üblichen und einstudierten Sermon verfallen konnte.
    »Eine Art Feldkommissar«, antwortete sie und setzte sich auf einen zweiten Lehnstuhl, den sie dicht neben meinen gerückt hatte. »Ein Beauftragter für den Kampfschauplatz oder Krisenherd, wenn Sie so wollen.«
    »So etwas wie ein Feuerwehrmann?«, fragte ich. »Sie kommen, wenn’s brennt?«
    »Ja, so in etwa, Mr. Ingram«, lachte sie und strich sich die Uniform glatt. Zwei Sterne und ein großes S prangten auf den Epauletten an ihren Schultern. »Und es brennt an vielen Stellen in diesem Land. Und auf der ganzen Welt. Die Sünde und das Laster …«
    »Warum wollten Sie mich sprechen, Eva?«, fiel ich ihr erneut ins Wort.
    Diesmal reagierte sie nicht pikiert, weil ich sie allzu vertraulich mit dem Vornamen angesprochen hatte, sondern nickte ernst und sagte: »Um mich bei Ihnen zu entschuldigen.«
    »Warum?«, wunderte ich mich. »Dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Ganz im Gegenteil bin ich es, der Ihnen zu Dank verpflichtet ist. Wenn Sie nicht gewesen wären und sich für mich eingesetzt hätten …«
    »Ich rede nicht von der Verhandlung«, schnitt sie mir nun das Wort ab und machte eine ungeduldige Geste mit der Hand. »Ich habe mit dem General über Sie gesprochen, und er hat mir sehr ernsthaft ins Gewissen geredet.«
    »Sie nennen Ihren Vater General?«
    »Gewiss doch«, antwortete sie und machte eine verständnislose Miene. »Er ist schließlich der General. Unser aller General im Krieg gegen die Sünde und für die Errettung der Seelen.«
    »Verstehe«, sagte ich und musste an das Gerücht denken, von dem Simeon mir vor einigen Tagen erzählt hatte: dass Eva Booth ihrem Vater hoch und heilig hatte versprechen müssen, niemals zu heiraten. Ich hatte bislang bezweifelt, dass an dem dummen Gerede irgendetwas dran sein könnte, doch als ich den ernsten, fast feierlichen Ausdruck in Evas Gesicht sah, konnte ich mir plötzlich sehr gut vorstellen, dass er nicht völlig aus der Luft gegriffen war. Eva Booth war eine gehorsame Tochter. Nein, eine gehorsame Soldatin.
    »Wofür wollen Sie sich entschuldigen, Eva?«
    »Es war nicht recht, Sie zu ohrfeigen und einen Satan zu nennen. Das war falsch und unangebracht.« Sie wirkte regelrecht zerknirscht und schien unter der von ihr begangenen Verfehlung ernsthaft zu leiden. Jedenfalls tat sie alles, um diesen Eindruck zu erwecken. Sie griff sich an die Brust und setzte hinzu: »Ich bitte Sie daher aufrichtig um Verzeihung.«
    »Das ist nicht nötig«, antwortete ich verwirrt und hob abwehrend die Hand. »Sie hatten ja recht, mich einen Satan zu nennen. Mich hat damals tatsächlich der Teufel geritten. Und die Ohrfeige hatte ich mehr als verdient. Sie wissen gar nicht, wie sehr ich diese Backpfeife nötig hatte.«
    »›Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als Erster einen Stein‹, spricht der Herr«, sagte sie kopfschüttelnd. »Was ich Ihnen vorgeworfen habe, das hätte ich mir selbst vorwerfen müssen. Das hätten wir uns vorwerfen müssen.« Sie erhob sich und ging vor mir auf und ab, ohne

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