Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Wunden und blauen Flecken übersät war und dessen Uniform vor Dreck starrte. Er lag rücklings auf der Bank, die Beine angewinkelt, und wirkte wie ohnmächtig.
»Ein Glück!«, rief Major Pringle und hielt das Pferd an der Kandare. »Der Bruder schläft. So kann er wenigstens nicht herumschreien. Er hat vorhin fürchterlich gewütet.«
»Was ist mit seinem Gesicht?«, fragte Eva und hielt dem Schlafenden die Laterne vor die Nase. Es war offensichtlich, dass die Wunden bereits verkrustet waren und die blauen Flecken ins Grünlichgelbe übergingen.
»So sah er auch schon vor zwei Tagen aus«, sagte ich und half Major Pringle, das unruhige Pferd über den Gehsteig in Richtung Hofeinfahrt des Hauptquartiers zu lenken. »Die Striemen hat er sich letzten Freitag bei der Kundgebung vor dem Ten Bells geholt. Das hat er zumindest behauptet.«
»Sie kennen Bruder Adam?«, wunderte sich Eva und öffnete mit einem Schlüssel das Gittertor. »Sie erstaunen mich ein ums andere Mal, Rupert.«
»Der gute Adam scheint ein echter Heißsporn zu sein«, erinnerte ich mich an meine Begegnungen mit diesem jähzornigen jungen Mann in Southwark. Und ich musste an seinen sehnsüchtigen Blick auf mein Bier im George Inn denken. »Ohne Uniform würde man ihn niemals für einen Heilsarmisten halten«, setzte ich hinzu. »Mir scheint er ein recht aufbrausender und wütender Hitzkopf zu sein, den ich eher in den Reihen der Skeleton Army vermutet hätte.«
»Ja«, bestätigte Eva und schloss das Tor hinter der Kutsche wieder ab. »Genau das ist sein Problem. Als ich ihm vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnete, sah Bruder Adam ganz ähnlich aus wie heute. Er war auf dem besten Weg, sich zu Tode zu trinken oder als Raufbold im Gefängnis zu landen.« Sie schüttelte mitleidig den Kopf, während Major Pringle den Tilbury zu einem Unterstand im hinteren Teil des Hofes brachte, und seufzte tief. »Ich hatte gehofft, wir hätten seine arme Seele gerettet und zu Gott geführt. Er schien mir auf einem guten Weg zu sein und wollte sich sogar zum Offizier ausbilden lassen. Ich verstehe das nicht. Was mag nur plötzlich in ihn gefahren sein?«
»Das kann ich mir auch nicht erklären«, sagte Major Pringle, der das Pferd angebunden hatte und neben der Kutsche stand. »Der Bruder war schon seit einigen Tagen sehr merkwürdig und aggressiv. Immer wieder hat er Streit gesucht und sich ganz ungehörig benommen. Als ich ihn heute gefunden habe, lag er vor dem George Inn in der Gosse und hat kein vernünftiges Wort mehr herausgebracht. Der Wirt der Kneipe hatte mich benachrichtigen lassen.«
»Was ist das für eine traurige Geschichte, die Sie vorhin erwähnten?«, wollte ich wissen.
»Er hat seine Frau und seinen Sohn verloren«, sagte der Major und fuhr sich durch den grauen Bart. »Sie sind bei der Geburt des Kindes gestorben. Und er war offenbar nicht ganz unschuldig am Tod der beiden.«
»Wie das?«, wunderte ich mich.
»Sie haben sich gestritten. Seine Frau war eine ebenso große Trinkerin wie er, ständig haben sie sich in den Haaren gelegen. Doch diesmal mit bösen Folgen. Keiner weiß genau, was passiert ist, auch Adam konnte sich später an nichts erinnern. Aber als er wieder bei Sinnen war, hatte seine Frau eine Fehlgeburt erlitten, an deren Folgen sie verstarb. Adam hat darüber beinahe den Verstand verloren, denn obwohl sie sich gegenseitig das Leben zur Hölle gemacht haben, hat Adam seine Emma sehr geliebt. Das vermute ich jedenfalls.«
»Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«, sagte ich und deutete auf den schnarchenden jungen Mann. »Und manchmal auch sich selbst.«
»Was soll mit ihm geschehen?«, fragte Major Pringle.
»Wir bringen ihn in den Schlafsaal im Keller, dort kann er erst einmal seinen Rausch ausschlafen«, antwortete Eva und bedeutete zwei Salutisten, die aus einem Seitengebäude den Hof betraten, ihnen zu Hilfe zu kommen. »Sobald er wieder bei Besinnung ist, werde ich mit ihm reden und ihn in eines der Heime für Männer bringen lassen. Dort wird man sich um ihn kümmern.« Sie wandte sich zu mir um und setzte traurig lächelnd hinzu: »Ich werde versuchen, den Wolf wieder zu einem Menschen zu machen. Mit Gottes Hilfe und menschlicher Zuwendung wird der Bruder auf den rechten Weg zurückfinden.«
»Haben Sie niemals Zweifel an dem, was Sie tun, Eva?«, fragte ich und sah zu, wie der betrunkene Adam von Major Pringle und den beiden Heilsarmisten an Händen und Füßen ins Haus geschleppt wurde. »Zweifel, ob sich all
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