Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
geht jetzt nicht um Essex, sondern um dich. Um deine Zukunft. Am liebsten würden die Barclays den ganzen Skandal vertuschen und so tun, als sei nichts geschehen, aber damit kommen sie natürlich nicht durch. Was für ein Glück, dass du heute in Bury Hill warst und den Schwindel entdeckt hast! Nicht auszudenken …« Er verschwieg, was er sich nicht auszudenken vermochte, und setzte hinzu: »Was für eine schamlose Person!«
»Haben sie sie gefunden?«
»Wen? Meinst du diese … diese …?«
»Ihr Name ist Meredith«, sagte ich. »Haben sie sie gefunden?«
Vater nickte und seufzte, während Mortimer das Wort ergriff: »Kurz hinter Oxford. Sie sind nicht weit gekommen. Ein Stallbursche der Barclays war anscheinend eingeweiht und hat alles ausgeplaudert. Offensichtlich wollten Miss Wright Barclay und ihr Cousin bei einem entfernten Verwandten in Schottland unterschlüpfen, aber sie wurden auf der Landstraße abgefangen.«
»Meredith ist vermutlich bereits wieder auf dem Weg nach Bury Hill«, sagte William und wiegte nachdenklich den Kopf. »Wenn du Barclays Telegramm heute Morgen vor deiner Abfahrt erhalten hättest und in London geblieben wärst, wäre vermutlich nichts von dem Skandal ans Tageslicht gekommen.«
»Arme Meredith«, sagte ich und kramte nun doch eine Zigarette aus dem Etui.
»Bist du noch bei Trost?«, brach es aus Mortimer hervor; er merkte vor lauter Entrüstung nicht, dass ihm Zigarrenasche auf die Hosenbeine fiel. »Du hast doch nicht etwa Mitleid mit ihr?«
»Der Vertrag mit Barclay und Perkins ist natürlich hinfällig«, konstatierte mein Vater kopfschüttelnd. »Ebenso die Hochzeit und alle weiteren Pläne! Dafür sollen sie sich einen anderen Dummen suchen.«
»Warum?«, fragte ich und zündete mir die Zigarette an. »Es ist ja im Grunde nichts geschehen. Meredith ist nach wie vor zu haben, und reich sind die Barclays schließlich immer noch. Ist doch ein gutes Geschäft, oder?«
»Nichts geschehen?«, empörte sich mein Vater und baute sich vor mir auf. »Hast du den Verstand verloren, Junge? Wie kannst du denn jetzt ans Geschäft denken? Hast du denn gar kein Ehrgefühl? Deine Braut ist die Geliebte eines anderen Mannes! Eine verdammte Hure!«
»Wenn du meinst«, sagte ich und zog das Foto aus dem Papierumschlag.
»Darüber kann es überhaupt keine zwei Meinungen geben!«, brüllte mein Vater und starrte blinzelnd auf das Bild. »Was hast du da?«
Ich hielt das Foto ins Licht und sagte: »Die Geliebte eines Mannes. Eine verdammte Hure, sollte ich wahrscheinlich sagen. So hast du dich doch gerade ausgedrückt, oder?«
»Was meinst du?« Er fingerte seine Brille aus der Brusttasche, setzte sie umständlich auf, nahm mir das Bild aus der Hand und riss im gleichen Moment die Augen auf. »Woher hast du das?«, keuchte er und musste sich setzen.
»Wovon redet ihr beiden?«, wollte Mortimer wissen und erhob sich.
»Ja. Was ist das für ein Foto?«, fragte William und stand ebenfalls auf. Er schaute unserem Vater über die Schulter und sagte: »Kommt mir irgendwie bekannt vor. Wer ist diese Frau?«
»Ihr Name ist Mary Brooks«, antwortete ich. »Damals hieß sie noch Tremain. Ihr Porträt hing bis vor einigen Tagen in Vaters Büro.«
»Richtig«, sagte William verdutzt und runzelte die Stirn. »Sieht ihr ähnlich. Hübsche Person!«
»Ich verstehe kein Wort«, schnaubte Mortimer.
»Hat Webster dir das Foto gegeben?«, fragte Vater atemlos und stierte unablässig auf das Bild. »Was will er damit bezwecken?«
»Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?«, rief Mortimer aufgebracht.
»Welcher Webster?«, fragte ich.
»Rodney Webster«, sagte mein Vater, senkte den Blick und gab mir das Foto zurück. »Der Wirt vom George Inn in Southwark. Die Schänke hat uns bis vor ein paar Jahren gehört. Ich hab sie an Barclay und Perkins verkauft, um das Geld für das Crown Hotel aufzubringen.«
Allmählich begann ich, die Zusammenhänge zu begreifen. Das Gemälde der weiß gekleideten Hirtin war kurz nach dem Tod unserer Mutter aufgetaucht, etwa zu der gleichen Zeit, als unser Vater die unrentablen Gasthäuser in Southwark an die Barclay-Brauerei verkauft hatte. Und vermutlich bestand hier nicht nur eine zeitliche Verbindung. Ich hielt Vater das Foto direkt vor die Nase und fragte: »Hat sie für Webster gearbeitet? Im George Inn? Habt ihr euch dort kennengelernt? Damals in den Sechzigern?«
Er seufzte tief und nickte.
»Versteh ich das jetzt richtig?«, lachte William und
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