Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
die ersten weißen Punkte hinter der Halbinsel von Walton auftauchten und ein Mann vom örtlichen Jachtclub durch sein Fernrohr schaute und mit feierlicher Stimme verkündete, die Solent Star von Kapitän O’Neill liege mit mehreren Schiffslängen in Führung, fielen sich die drei Brooks-Kinder kreischend in die Arme, hielten sich an den Händen und tanzten lachend um ihre Mutter herum. Ob ihr Vater die Küstenregatta tatsächlich gewonnen hatte, daran konnte Celia sich nicht entsinnen, aber der Anblick der Segel am Horizont und die Erinnerung an den Ringelreigen auf den Klippen von Clacton hatten sich ihr bis heute wie ein Feuerzeichen ins Hirn eingebrannt. Vielleicht auch deshalb, weil Celia ihren Vater danach nie wiedergesehen hatte. Das Winken auf den Klippen war ihr Abschied von ihm gewesen.
Als Celia ein heiseres Kichern neben sich hörte, fuhr sie erschrocken zusammen. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie unter ihrer Bettdecke eingeschlafen sein musste. Sie warf das Laken beiseite, schaute zu Heathers Koje und stieß einen spitzen Schrei aus.
»Na, ausgeschlafen?«, fragte Heather amüsiert.
»Was, zum Teufel, machst du da?«, rief Celia entrüstet. Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Ihr offener Koffer lag auf dem Nachbarbett, der Inhalt war auf der Decke verteilt, während Heather im Schneidersitz davorhockte, mit einer Postkarte in der Hand und einem belustigten Grinsen im Gesicht.
»Lesen«, antwortete Heather. »Siehst du doch.«
»Wer hat dir erlaubt, in meinem Koffer zu kramen?« Celia riss ihr die Ansichtskarte des Silver King aus der Hand.
»Wollte dich nicht wecken«, meinte Heather gleichgültig.
Celia raffte ihre Sachen zusammen, warf sie in den Koffer und klappte ihn zu. Nur die Karte des Kuriositätenkabinetts behielt sie in der Hand. »Wie kommst du dazu, meine Briefe zu lesen?«
»Es war bloß ’ne Postkarte, Schätzchen«, antwortete Heather lachend und rümpfte die Nase. »Was stellst du auch den Koffer vors Bett und schließt ihn nicht ab? Konnte ja nicht ahnen, dass du was zu verbergen hast.«
»Ich hab überhaupt nichts zu verbergen«, empörte sich Celia und ärgerte sich zugleich, dass sie den Koffer nicht verschlossen oder versteckt hatte.
»Warum regst du dich dann so auf?«, meinte Heather achselzuckend, legte sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zur Dachschräge. »Ned Brooks«, murmelte sie leise, »heißt er so?«
»Wer?«
»Dein Vater. Ist die Karte von ihm?«
»Das geht dich gar nichts an.«
»Und wer ist Mr. Egerton? Warst du vorher in Southampton?«
»Kümmer dich um deinen eigenen Kram!«
»Hätt’ ja sein können, dass ich Sachen weiß, die dich interessieren«, meinte Heather scheinbar unberührt. »Ich dachte, du suchst deinen Vater.«
»Na und?«, sagte Celia unsicher und schaute zu Heather, die unverwandt zur Decke starrte. »Was willst du eigentlich von mir? Wovon redest du?«
»Kennst du die Schlangenfrau von Shoreditch?«, antwortete Heather mit einer Gegenfrage.
Celia schüttelte langsam den Kopf.
»Ich aber«, sagte Heather und lächelte spöttisch. »Schon lange. Wir kommen nämlich beide aus Blackburn. Haben zusammen in den Baumwollspinnereien gearbeitet. Will sie aber heute nichts mehr von wissen. Eigentlich heißt sie Maureen Watson, aber inzwischen nennt sie sich Sheila, die Schlangenfrau von Shoreditch.« Sie lachte und setzte hinzu: »Blöder Künstlername, findste nicht?«
»Warum erzählst du mir das?« fragte Celia möglichst ruhig, doch ihr Herz raste, und die Innenflächen ihrer Hände wurden feucht.
»Früher hieß sie Sheila, die Schlangenfrau von Southwark, und davor Vicky, die weibliche Viper von Whitechapel. Kommt immer drauf an, wo sie gerade auftritt und ihre Gräten verbiegt. Solltest du dir mal anschauen, Kindchen. Sieht wirklich beängstigend aus, wenn sie sich die Beine verknotet und von hinten um den Hals legt, dass sie vorne an ihrem dicken Zeh nuckeln kann. Man könnt fast meinen, sie hätte keine Knochen im Körper.«
»Diese Schlangenfrau?«, flüsterte Celia und kam Heather ganz nah, als hätte sie Angst, man könnte sie belauschen. »Ist sie auch im Silver King in der Whitechapel Road aufgetreten?«
»Interessiert dich also doch«, frohlockte Heather. »Hab ich mir doch gedacht.«
»Jetzt sag schon!«
»Sie hat mal so was erwähnt«, erwiderte Heather achselzuckend. »Ob’s das Penny Gaff in der Whitechapel Road war, weiß ich nicht. Gesehen hab ich sie dort nie, aber ich kann mich
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