Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
ihr. »Ich habe nichts anderes gelernt.«
»Bei den Schwestern im Heim wird deine Arbeit offensichtlich geschätzt«, antwortete Adam und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, das etwas gezwungen ausfiel. »In der Hanbury Street hast du immer ein Bett und eine warme Mahlzeit. Und vielleicht findet sich mit der Zeit ja etwas anderes. Ist ja nur für den Übergang. Wir kümmern uns um dich, darauf hast du mein Wort.« Er legte die Hand auf sein Herz und wiederholte: »Ich kümmere mich um dich.« Dann sprang er plötzlich auf die Beine, zog Celia hoch und sagte: »Komm! Ich möchte dir jemanden vorstellen.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, führte er Celia quer über den Friedhof zum hinteren Ende des Geländes, wo die Gräber schlichter und die Kreuze enger gesetzt und nicht aus Stein, sondern aus Holz waren. Vor einem solchen schmucklosen Grab blieb er stehen, nahm die Mütze vom Kopf, blickte zu Boden und sagte: »Liebe Emma, ich möchte dir Celia vorstellen.« Dann wandte er sich um und sagte: »Celia, das ist Emma, meine Frau.«
Celia war wie vor den Kopf geschlagen, sie brachte keinen Ton heraus und starrte auf das schlichte Holzkreuz, das nicht so aussah, als stünde es schon lange hier. In das Holz waren zwei Namen und eine Jahreszahl eingeritzt: »Emma & James 1886«.
»Deine Frau?«
Adam nickte und lächelte traurig.
»Und wer ist James?«
»Unser Sohn«, antwortete er und presste die Lippen aufeinander, als müsste er erst Kraft für die nächsten Worte sammeln. Schließlich flüsterte er: »Er starb bei der Geburt. Und meine liebe Emma mit ihm.«
»Oh mein Gott!«, entfuhr es Celia. Sie schlug die Hände vor den Mund und murmelte: »Wie entsetzlich!«
»Ja, so habe ich auch gedacht«, sagte Adam und seufzte schwer. »Ich habe Gott verflucht, weil er so etwas Grausames zulassen konnte. Weil er ein unschuldiges Kind töten konnte und eine junge Frau, die fest an ihn geglaubt hat. Ja, ich habe meinen Gott gehasst. Und ich habe mich selbst verflucht und mir selbst Vorwürfe gemacht.«
»Warum?«, wunderte sich Celia.
»Weil ich …« Wieder bemerkte Celia das nervöse Zucken in seinen Mundwinkeln, doch dann schüttelte er den Kopf und fuhr nach einer Pause fort: »Es war mein Kind, das sie in ihrem Bauch trug und bei dessen Geburt sie gestorben ist.« Er räusperte sich und rieb sich die Schläfen, als wollte er die Gedanken daran aus seinem Kopf verscheuchen. »Ich habe meinen Schmerz in Bier und Branntwein ertränkt, bis man mir Arbeit und Wohnung nahm und ich wie ein Köter in der Gosse landete.«
»Und dann?«
»Dann kam Schwester Eva und hat mich zu neuem Leben erweckt. Sie hat mir die Hand gereicht, als alle anderen sich längst angewidert abgewandt hatten, und sie hat mir klargemacht, dass es gar keinen Grund zu trauern gibt.«
»Keinen Grund zu trauern?«, wunderte sich Celia. »Wie kann sie so etwas sagen?«
»Weil es die Wahrheit ist«, sagte Adam und lächelte. »Weil Emma und James in die Herrlichkeit befördert wurden. Eva hat mich daran erinnert, dass Jesus für uns am Kreuz gestorben ist. Dass das Heil der Menschen durch das Sühneopfer Christi gewiss ist. Und dass es nun an mir sei, mich zum Sterben bereit zu machen. Dadurch wurde ich gerettet.«
Celia konnte Adam nicht ins Gesicht schauen und starrte stattdessen auf das Holzkreuz, als wäre in der Inschrift irgendein Geheimnis verborgen, das es zu enträtseln gelte. Schließlich sagte sie: »Das Kreuz sieht neu aus.«
»Ja«, erwiderte Adam. »Ich habe es erst aufgestellt, als ich mir sicher war, dass ich nicht mehr trauern muss.« Er lächelte seltsam und fügte hinzu: »Ich freue mich für Emma und James.«
»Wie kannst du dich freuen?!« Sie schüttelte fassungslos den Kopf.
»Ihnen geht es gut«, sagte Adam und nickte bestimmt.
Celia glaubte zu begreifen, was er damit sagen wollte, doch die Worte klangen in ihren Ohren dennoch unangebracht und gekünstelt. Sie nahm Adam einfach nicht ab, dass er nicht mehr um seine Frau und seinen Sohn trauerte. Dass er den Schmerz nicht mehr spürte. Und sie hielt es für Unrecht, so etwas von einem Menschen zu verlangen, der gerade seine Liebsten verloren hatte. Trauer musste sein, fand Celia, ob der Verstorbene nun in die Herrlichkeit befördert worden war oder nicht.
»Was ist mit dir?«, fragte Adam, während er wieder nach ihrer Hand zu greifen versuchte.
»Lass uns gehen!«, antwortete Celia knapp und wandte sich brüsk ab. »Mir ist kalt.« Sie lief hastig voran
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