Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
böse auf sie war. Seit ihrem dummen und ungehörigen Ausfall am Nachmittag war sie von einem schlechten Gewissen geplagt worden. Deshalb hatte sie sich bei dem sichtlich erleichterten Adam für ihr Betragen sofort entschuldigt, als er vor der Tür des Heims erschienen war.
Adam selbst schien aufgeregt zu sein, doch das hatte nicht in erster Linie mit Celia oder ihrem seltsamen Verhalten zu tun, wie er sogleich beteuerte, sondern mit der Tatsache, dass er von Schwester Eva auserkoren worden war, am heutigen Abend das einstimmende »Zeugnis« abzulegen. Auf Celias fragenden Blick erteilte Adam auch hier bereitwillig Auskunft. Die Märsche und Versammlungen der Heilsarmee wurden stets durch eine sogenannte Erweckungserfahrung eingeleitet. Dabei schilderte ein Mitglied der Armee den Zuhörern in eigenen Worten, wie er zu Gott gefunden hatte oder von den Glaubensbrüdern erweckt worden war. Dieses Eröffnungsritual diente dem Zweck, den anderen ein Beispiel zu geben, ihnen vielleicht sogar als Vorbild zu dienen, wie Adam stolz verkündete. Und heute durfte er den Brüdern und Schwestern erzählen, auf welche Weise Schwester Eva ihn aus seinem Elend gerettet hatte.
Celia und Adam waren relativ früh an der Ebenezer Hall. Nach und nach füllte sich die Straße vor dem bescheidenen Gebäude. Celia war überrascht, wie viele Menschen dem Aufruf der Heilsarmee folgten, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob es sich bei allen Teilnehmern um Gleichgesinnte oder Unterstützer handelte. Bald standen wohl mehrere hundert Männer und Frauen nebst einigen Kindern dicht gedrängt auf der Straße. Viele von ihnen schwenkten pechgetränkte Fackeln, rußende Petroleumlampen oder Windlichter, als Adam auf die Treppenstufen vor dem Eingang der Ebenezer Hall trat und begann, von seiner verstorbenen Frau Emma und dem totgeborenen Kind zu erzählen. Manche der Zuhörer trugen die schlichte Uniform der Heilsarmee, die Frauen hatte ihre dunklen Strohhauben auf dem Kopf, die Männer Schirmmützen oder flache Hüte, und einige der Versammelten trugen Schilder, auf denen Parolen wie »Jesus ist der Retter« oder »Glaube erlöst dich« zu lesen waren.
Um die versammelten Gläubigen hatten sich auch Neugierige und Gaffer geschart, die den Aufmarsch teils abfällig, teils belustigt beäugten und Adams Bericht nun mit Zwischenrufen störten. Auch aus den Fenstern der umliegenden Häuser waren einige unflätige Bemerkungen zu hören.
Adam ließ sich davon nicht beirren. Er war in dem Bericht seiner Erweckung inzwischen bei seiner Trunksucht und der daraus folgenden Obdachlosigkeit angelangt und beschrieb in schlichten, aber dennoch eindringlichen Worten, wie er jeden Halt im Leben verloren hatte und der Verrohung, der Sünde und dem Tod anheimgefallen war.
»Ich stünde heute nicht vor euch, liebe Brüder und Schwestern«, rief er und legte die Hand aufs Herz, »sondern läge auf dem Friedhof von Christ Church begraben, wenn mich Schwester Eva nicht gerettet und zu Gott geführt hätte. Denn sie hat mich erweckt und daran erinnert, dass es nicht meine Aufgabe ist, mich selbst zu hassen, sondern Gott zu lieben, wie er mich liebt.« Er streckte die Hand aus und deutete mit seiner Fackel auf eine junge rothaarige Frau, die neben ihm und Schwester Florence auf den Stufen stand und verlegen lächelnd zu Boden schaute. »Sie hat mir den Weg zum Heil gewiesen!«, rief Adam.
Celia war erstaunt, als ihr klar wurde, dass die rothaarige Frau Eva Booth sein musste. Nach Adams Erzählungen hatte sie eine selbstbewusste und resolute Frau erwartet und nicht ein beinahe verschüchtert wirkendes Mädchen mit verschämtem Blick und bescheidenem Lächeln. Schwester Eva war eine sehr hübsche junge Frau, die Celia so gar nicht wie eine eifernde Predigerin und bekehrende Missionarin vorkam. Eher machte sie den Eindruck, als benötigte sie selbst Hilfe und Beistand. Diese Frau war also die unerschrockene Offizierin des Heils, die mittellosen Sündern, verruchten Dirnen und gottlosen Verbrechern das Evangelium nahebrachte? Celia mochte es kaum glauben.
Adam beendete sein »Zeugnis«. Einige Menschen spendeten Beifall, andere lachten abfällig, dann erschallte eine donnernde Fanfare wie aus dem Nichts. Eine Blaskapelle, die Celia zuvor nicht bemerkt hatte, schmetterte eine blecherne Melodie. Die Trommeln schlugen den Takt oder versuchten es zumindest, und der Zug setzte sich schwerfällig in Bewegung. Florence und Eva Booth begannen in der ersten Reihe zu singen:
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