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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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bedankte sich bei Esther und starrte auf ihre Schüssel, um Heathers fragendem Blick auszuweichen.
    Sechs Monate Holloway! Die Mutter mit einem Blatt Papier in der Hand. Und die Tränen auf ihren Wangen. Celia hatte das unbestimmte Gefühl, irgendetwas nicht bedacht, etwas übersehen zu haben, obwohl es direkt vor ihrer Nase lag. Plötzlich sprang sie auf und rief: »Die Papiere!«
    »Welche Papiere?«, wunderte sich Heather.
    Doch Celia antwortete nicht, lief stattdessen aus der Küche, eilte die Treppe hinauf und rannte zu ihrem Bett in der Ecke. »Mach dich bereit zu sterben«, mahnte der Sinnspruch an der Wand. Vorher werde ich aber erst noch herausfinden, was mit meinem Vater ist, dachte sie bei sich, als sie den Lederkoffer unter ihrem Bett hervorzog.
    »Was ist denn in dich gefahren?«, fragte Heather, die ihr gefolgt war und nun laut schnaufend neben ihr stand. »Verrückt geworden oder was?«
    Ohne zu antworten, öffnete Celia den Koffer, nahm ihre Kleider heraus und kippte den restlichen Inhalt auf ihr Bett. Zum Vorschein kamen Zeitungsausschnitte, Postkarten, einige Bücher und Broschüren, wertlose Erinnerungsstücke, Krimskrams. »Die Papiere«, wiederholte Celia. »Die Antwort ist irgendwo darin verborgen!«
    Heather schob die Unterlippe vor und runzelte die Stirn, setzte sich aber und griff im selben Augenblick nach einem der Bücher. Diesmal ließ Celia es geschehen. Vielleicht würde Heathers unvoreingenommener Blick etwas entdecken, das Celia bislang entgangen war.
    »Murray’s Modern London 1860«, las Heather den Titel des Buches. »Nicht gerade auf dem neuesten Stand.«
    »Das Buch gehörte meiner Mutter«, sagte Celia achselzuckend. »Sie hat früher in London gearbeitet. Ist lange her.«
    Heather nickte, legte das Handbuch beiseite und griff nach einer Postkarte.
    Währenddessen schaute Celia auf die Fotografie der Familie und strich mit dem Zeigefinger über die Gesichter ihrer Brüder, die inzwischen als Leichtmatrosen für die Cunard Line zwischen Liverpool, Queenstown und New York fuhren, allerdings auf unterschiedlichen Dampfschiffen. John, der ältere der beiden, hatte auf der Etruria angeheuert, und Peter, gerade erst achtzehn Jahre alt geworden, fuhr auf der Aurania über den Atlantik. Sie waren seit anderthalb Jahren nicht in Brightlingsea gewesen. Nach dem Tod der Mutter hatte Celia der Cunard Reederei in Southampton und dem Heimathafen der Dampfer in Liverpool ein Telegramm geschickt, doch sie wusste nicht, ob ihre Brüder die Nachricht inzwischen erhalten hatten.
    »Meine Güte!«, rief Heather ärgerlich, »dieser Mr. Hutchinson hat ja ’ne fürchterliche Klaue!« Sie las die Postkarte aus Southampton, indem sie die krakelig geschriebenen Worte laut buchstabierte, und setzte schließlich hinzu: »In der County Tavern warst du vermutlich schon, oder?«
    Celia nickte, legte die Fotografie beiseite und sagte: »Von den Egertons hab ich die Adresse in Whitechapel.«
    »Du meinst die Ansichtskarte vom Silver King«, sagte Heather wissend und fragte: »Von dem Menschenfresser haben die in Southampton nichts erzählt?«
    Celia schüttelte den Kopf, faltete den Ausschnitt der Illustrated London News auseinander und starrte zum vermutlich hundertsten Mal auf die herausgeschnittene Seite. Heather schaute ihr über die Schulter und las laut: »Expedition zum Nil … Ägypten … Sudan … General Gordon.« Es entstand eine Pause, und schließlich fragte Heather: »War dein Vater in Afrika?«
    »Keine Ahnung«, antwortete Celia. »In dem Artikel wird er jedenfalls nicht erwähnt. Ich weiß nicht, warum Mutter den Zeitungsausschnitt aufbewahrt hat.«
    »Na, schlag mich tot!«, entfuhr es Heather.
    »Was hast du?«
    Heather deutete auf die Zeitung und sagte: »Todesurteil gegen den Kannibalenkapitän.«
    Celia erstarrte und schaute ungläubig auf die Zeilen. Der Artikel, dessen Schlagzeile Heather vorgelesen hatte, befand sich am unteren Rand der Seite und bestand lediglich aus einer einzigen Spalte, die im Vergleich zum reich bebilderten Hauptartikel über die Gordon Relief Expedition geradezu winzig erschien. Als sie die Zeitung zum ersten Mal in der Hand gehabt hatte, war ihr der Artikel zwar aufgefallen, aber von einem Kannibalen hatte sie damals noch nichts gehört, erst recht hatte sie das Wort noch nicht mit ihrem Vater in Verbindung gebracht. Der Text berichtete in knappen und sehr steif klingenden Formulierungen von dem Urteilsspruch eines Londoner Gerichts (»wir berichteten«,

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