Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
anwendete. Strohhüte wurden direkt über den Passformen aus Draht genäht, wobei man am Rand begann und sich ringsum der Mitte näherte.
Celia war froh, eine Beschäftigung zu haben, mit der sie sich für einige Zeit von ihren Grübeleien ablenken konnte. Denn wenn sie zu lange den eigenen Gedanken nachhing, sah sie plötzlich in Seenot geratene und bis auf die Knochen abgemagerte Männer vor sich, die das Blut eines Kabinenjungen tranken und seine Eingeweide aßen. Sie fragte sich, wie sie selbst handeln würde, wenn sie in eine solche Notsituation geriete. Und die Antwort darauf machte ihr Angst.
Es war für sie eine Herausforderung, die geübten Handgriffe so zu erklären, dass es auch für Anfängerinnen verständlich war. Manchmal ertappte sie sich dabei, dass sie ungeduldig wurde, weil eine der Frauen eine vermeintliche Selbstverständlichkeit nicht auf Anhieb begriff oder einen einfachen Handgriff nicht sofort wiederholen konnte. Aber nach einer Weile war sie so von ihrem Tun gefangen, dass sie kaum bemerkte, wie die Zeit verflog. Erst als Captain Florence ihr auf die Schulter tippte und sie fragte, ob sie nicht auch zu Mittag essen wolle, wurde Celia bewusst, dass sie stundenlang genäht und inzwischen unzählige Strohhüte hergestellt hatte, sodass sich der Vorrat an Strohschnitt langsam dem Ende zuneigte.
Auf dem Weg zur Küche berichtete Captain Florence, dass der Bruder, der gestern bereits nach ihr gefragt hatte, am Morgen erneut vorgesprochen und sich nach Celia erkundigt habe. Dabei schaute ihr die Heilsarmistin seltsam forschend ins Gesicht und setzte, da Celia lediglich mit einem Kopfnicken antwortete, hinzu: »Wenn dir Bruder Adam zu forsch oder aufdringlich ist, kannst du das ruhigen Gewissens sagen. Dies ist ein Asyl für Frauen, und alle Brüder der Heilsarmee werden das unter allen Umständen respektieren.« Wieder fasste sie sich in ihrer etwas aufgesetzten Art ans Herz und fügte hinzu: »Dieses Heim ist tatsächlich eine Burg. Eine Trutzburg des Herrn! ›Der Herr ist mein Schutz‹, sagt die Schrift, ›mein Gott ist der Fels meiner Zuflucht.‹«
»Adam ist nicht aufdringlich, er will nur helfen«, antwortete Celia lächelnd. »Und ich bin ihm sehr dankbar dafür.«
»Das ist schön.« Florence Booth presste die Lippen aufeinander, nickte dann bedächtig und sagte: »Bruder Adam hat sehr unter dem Verlust seiner Frau und seines Kindes gelitten. Es hat ihm beinahe den Verstand geraubt.«
»Ich weiß«, sagte Celia, der es irgendwie unpassend erschien, ausgerechnet mit der von Adam so geschätzten Florence über ihn zu sprechen. »Er hat es mir erzählt.«
»Tatsächlich?«, wunderte sich Captain Booth.
»Ja«, antwortete Celia, die nun ihrerseits stutzte. »Seine Frau ist bei der Geburt des Sohnes gestorben, und er hat sich dem Alkohol hingegeben. Adam macht daraus kein Geheimnis. Ganz im Gegenteil.«
»Der Schmerz und die Schuld sind manchmal überwältigend und können den Menschen überfordern«, sagte der Captain geheimnisvoll.
Celia erinnerte sich, dass auch Adam von Schuld und Selbstvorwürfen gesprochen hatte. Als fühlte er sich selbst für den Tod seiner Familie verantwortlich. Doch so ganz wollte ihr das nicht einleuchten.
»Das alles hat tiefe Wunden bei Adam hinterlassen«, fuhr Florence Booth fort. »Und Narben, die immer wieder aufbrechen können.«
»Er scheint seinen Frieden gefunden zu haben und hat dem Alkohol entsagt«, erwiderte Celia, als müsste sie Adam gegen irgendetwas verteidigen. »Auch dank der Brüder und Schwestern der Heilsarmee. Das hat er gestern bei der Versammlung sehr anschaulich und anrührend beschrieben.«
»Ich weiß, und dafür danke ich Gott«, sagte Florence und lächelte wieder ihr maskenhaftes Lächeln. »Ich wollte nur, dass du weißt, dass du hier sicher bist. Wir werden nicht noch einmal zulassen, dass uns eine Schutzbefohlene abhandenkommt. Die Armee des Heils wird dir beistehen.«
»Danke«, sagte Celia, begriff aber nicht, was der Captain damit sagen wollte. Auf welche Weise sollte sie denn »abhandenkommen«? Und wieso »noch einmal zulassen«?
»Bruder Adam will am Nachmittag erneut vorbeischauen«, beeilte sich Florence Booth hinzuzusetzen. »Auf dem Rückweg nach Limehouse.«
»Limehouse?«, wollte Celia wissen. »Was ist da?«
»Das Wohnheim für Männer«, antwortete Florence. »Er arbeitet dort in der Essensausgabe.« Bevor sie sich von Celia verabschiedete, fragte sie wie beiläufig: »Wirst du heute Abend zum
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