Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
So weit kommt’s noch!«
    »War nur ’ne Frage«, meinte Maureen grinsend und ließ den Vorhang fallen.
    Nein, das war keine Frage, dachte Celia und schloss die Tür hinter sich. Es war eine Retourkutsche.

SAMSTAG, 20. OKTOBER 1888
    3
    Beim Frühstück in der Küche des Frauenheims gab es nur ein beherrschendes Thema: den gestrigen Angriff der Skelettarmee auf die Versammlung vor dem Ten Bells Pub. Einige der uniformierten Heilsarmistinnen und manche der übrigen Frauen hatten Kratzer und Schrammen im Gesicht, die alte Esther trug ihren rechten Arm in einer Schlinge. Auf Heathers spöttische Frage, ob sie sich beim Rasentennis verletzt habe, antwortete Esther mit einem donnernden: »Der Zorn Gottes wird über die Gottlosen kommen!« Es war nicht klar, ob ihre Worte auf Heather oder die Soldaten der Skelettarmee abzielten.
    Während um sie herum kopfschüttelnd gemunkelt und gemutmaßt wurde, wer wohl hinter dem feigen Anschlag und dem gemeinen Einfall mit den Ratten stecken mochte, starrte Celia wie versteinert auf den Tisch, löffelte lustlos ihren Haferbrei und war in ihrem Kopf meilenweit und Jahre entfernt.
    »Und?«, wurde sie von der neben ihr sitzenden Heather aus ihren Gedanken gerissen. »Glaubst du, dass er’s war?«
    Celia hob den Blick und schaute in Heathers grienendes Gesicht, das dem ihren so nahe war, dass sie Heathers schlechten Atem riechen konnte. »Wovon redest du?«, fragte sie, obwohl sie es genau wusste.
    »Von deinem Vater. Glaubst du, dass er ein Menschenfresser ist?«
    Celia nahm einen Löffel Porridge und schüttelte ärgerlich den Kopf.
    »Ich meine, könnte doch sein, oder?«, beharrte Heather und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Kannibale des Meeres! Würde zu ihm passen. Immerhin war dein Vater Matrose.«
    Celia warf den Löffel in die Schüssel, dass der Brei spritzte, und rief: »Unfug!«
    Das Dumme war nur, dass sie selbst diesen Unfug für gar nicht so abwegig hielt. Seit dem gestrigen Abend hatte Celia an nichts anderes denken können, und auch in den Alpträumen, die sie in der Nacht gequält hatten, war es nur um diese Frage gegangen: War ihr Vater jener ständig betrunkene »caníbal del mar«, von dem die bärtige Luisa gesprochen hatte? War das der Grund, warum die Leute in Southampton ihn einen Judas und feigen Verräter schimpften?
    Nein, dass ihr Vater ein Kannibale war, konnte und wollte Celia nicht glauben. Außerdem war so ein Penny Gaff nur schauriger Firlefanz, den man nicht ernst nehmen konnte. Dann jedoch erinnerte sich Celia, was ihre Mutter auf dem Sterbebett gesagt hatte: »Dein Vater ist ein Verbrecher! Ein verdammter Teufel! Hüte dich vor ihm, Celia!«
    Und mit einem Mal kam ihr eine Begebenheit in den Sinn, an die sie schon lange nicht mehr gedacht und die sie beinahe vergessen hatte. Es war nur ein nichtiger und eigentlich belangloser Vorfall, der ihr jetzt aber in einem anderen Licht erschien. Es war in Brightlingsea gewesen, in jenem Jahr 1884, kurz vor Weihnachten. Celia hatte nur eine vage Erinnerung daran, doch je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihr, dass sie damals unwissentlich Zeugin eines Gesprächs über ihren Vater geworden war.
    Es war eine stürmische Winternacht gewesen, wie so häufig an der Küste von Essex. Der Wind hatte geheult und durch die Ritzen gepfiffen, dass es wie Katzenjammer klang. Celia hatte in ihrem Bett gelegen und neben sich das leise Schnarchen ihrer älteren Brüder John und Peter gehört, die früh am nächsten Morgen zu ihrem ersten Austernfang auslaufen sollten. Bart Hutchinson wollte sie auf einem Segelkutter in den Umgang mit Scharrnetzen und Streicheisen einweisen. Der alte Walfänger bevorzugte es, in den unwirtlichen Herbst- und Wintermonaten in den heimischen Gewässern und Flussmündungen zu fischen, statt im eisigen Nordatlantik auf Walfang zu gehen.
    Seit Stunden lag Celia wach und horchte hinaus in den Sturm. Sie machte sich Sorgen um ihre Brüder, auch wenn die meisten Austernbänke nicht weit draußen vor der Colne-Mündung lagen und Mr. Hutchinson ein erfahrener Seemann war. Vielleicht war Celia auch deshalb so unruhig, weil sie begriff, dass mit dem morgigen Tag ein neuer Abschnitt im Leben von John und Peter beginnen würde. Sie würden nicht länger mit Celia zur Pfarrschule von All Saints gehen, nicht länger die übrige Zeit bei der Familie oder im Umkreis der kleinen Wohnung verbringen, sondern sich von nun an als Erwachsene fühlen und benehmen.

Weitere Kostenlose Bücher