Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Obergeschoss.«
»Danke«, sagte Celia und ging in die gewiesene Richtung.
Überall an den dunkel vertäfelten und mit Statuetten und Gemälden geschmückten Wänden hingen hölzerne Hinweisschilder: »Schwimmbad, Sporthalle, Bibliothek, Lesesaal, Technische Schule, Lehrraum I – IV, Großer Hörsaal, Wintergarten, Kleine Bühne, Tanzsaal«. Doch einige der Namen waren durchgestrichen oder mit Datumsangaben kommentiert: »Eröffnung im Dezember 1888«, »nicht vor Anfang 1889«, »in Planung«, »im Bau«, »demnächst im zweiten Obergeschoss«, »in Kürze«.
Celia wusste gar nicht, wo sie hinschauen sollte. Überall gab es etwas zu bestaunen, die riesigen Ölgemälde an den Wänden über der Treppe, die elektrischen Kronleuchter an der Decke und die schweren Brokat- und Samtvorhänge in den seitlichen Durchgängen. Sogar der dunkelgrüne Teppich, über den sie lief, schien ihr weicher als jeder Teppich, den sie bislang betreten hatte.
Als sie das Ende der Treppe erreicht hatte und sich im Obergeschoss umschaute, sah sie mehrere Gruppen von Menschen, die wie gebannt vor einigen Glasfenstern standen. Der Blick durch die Fenster ging jedoch nicht nach draußen, sondern fiel auf einen hell erleuchteten Nachbarraum, der, dem allgemeinen Raunen und Staunen nach zu schließen, einen ganz besonderen Anblick bot. Celia gesellte sich zu einer der Gruppen, und als ein Platz an der Fensterscheibe frei wurde, drängelte sie sich nach vorne.
Was sie hinter dem Glas sah, ließ auch sie vor Überraschung aufseufzen. Zunächst glaubte sie, ein riesiges und prunkvolles Kirchenschiff zu erkennen, doch dann begriff sie, dass dies die Queen’s Hall war, der zentrale Veranstaltungssaal, um den der gesamte Volkspalast herumgebaut war. Die schmalen Sichtfenster befanden sich auf der Höhe einer steinernen Galerie, die den gesamten Saal im Obergeschoss umgab und mit zahlreichen Frauenstatuen verziert war. Celia zählte zwanzig dieser lebensgroßen Skulpturen, zehn auf jeder Seite des Saals. An den prachtvollen Gewändern und den gekrönten Häuptern erkannte Celia, dass dies die Statuen von Königinnen waren. Unter jeder Königin befand sich im Erdgeschoss eine weitere Frauenstatue, die luftiger gekleidet war, die Arme nach oben reckte und an eine römische Göttin erinnerte. Die Königinnen auf den Galerien wurden von den Skulpturen im Parterre gleichsam getragen oder gestützt.
Ein mit Intarsien und Reliefs geschmücktes Rundgewölbe überspannte die gesamte Halle. Es erinnerte Celia an eine Tonne, mit halbrunden Mauerbögen als Stützen. Am Ende der Halle, dort wo sich bei einer Kirche der Altar befand, stand eine riesige Orgel auf einer treppenartigen Bühne, deren Rückwand an eine Muschel erinnerte. Das Orchester hatte bereits auf den Treppen und der Plattform vor der Orgel Platz genommen, der Dirigent stand an seinem Pult, und auch das Publikum saß zum Großteil auf den Stühlen. Es befanden sich so viele Stuhlreihen im Parkett, dass Celia ihre Anzahl nicht auf Anhieb schätzen konnte. Bei dem Versuch, sie zu zählen, war sie gerade bei Reihe Nummer 18 angekommen, als sie hinter sich eine bekannte Stimme hörte.
»Wo hast du Heather gelassen?«
Celia fuhr herum und hätte Sheila, die Schlangenfrau, beinahe nicht erkannt. Gestern hatte sie sie nur im durchsichtigen Trikot und später in einer Art Pelerine oder Cape gesehen, das an einen orientalischen Morgenmantel erinnerte. Nun aber stand sie in schlichter, aber dennoch eleganter Abendgarderobe vor ihr, mit dezenter Tournüre und hochgeschlossenem Mieder. Schräg auf dem Kopf saß ein Strohhut mit bunten Samtbändern. Nichts erinnerte an die freizügig gekleidete Bühnendarstellerin. Oder an die Baumwollspinnerin aus Blackburn, die sie früher einmal gewesen war.
»Sheila!«, rief Celia erfreut und reichte ihr die Hand. »Schön, dich zu sehen. Ich hab keine Ahnung, wo Heather steckt. Ich war allein unterwegs, also nicht wirklich allein, aber eben ohne Heather. Na ja, das ist eine lange Geschichte. Und keine sehr schöne.« Celia war selbst überrascht über ihr plötzliches Geplapper, aber sie war so froh, unter all diesen Fremden Sheila zu begegnen, dass sie einfach und unbedacht drauflosredete. »Ich freu mich wirklich. So ein Zufall!«
»Mein Name ist Maureen«, verbesserte die andere lächelnd und schüttelte Celias Hand.
»Oh, ja, natürlich, weiß ich doch«, erwiderte Celia und schaute verlegen zu Boden. »Tut mir leid.«
»Schon gut«, sagte Maureen.
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