Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
bist«, schluchzte Celia, die überhaupt nicht begriff, wie es so weit hatte kommen können. »Krankhaft eifersüchtig sogar. Das ist doch nicht normal!«
»Nimm das sofort zurück!«, rief er, fuhr plötzlich herum und schlug ihr unversehens mit dem Handrücken ins Gesicht.
Der Schlag war so heftig und kam so unerwartet, dass Celia nach hinten kippte und seitlich vom Kutschbock fiel. Mit einem dumpfen Knall schlug sie auf dem Pflaster auf. Schnell rappelte sie sich wieder auf, musste sich aber auf die Lippen beißen, weil sie sich beim Sturz den Fußknöchel und das Handgelenk verletzt hatte. Ohne ihren Begleiter nur eines Blickes zu würdigen, lief sie in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
»Celia! Komm zurück!«, rief Adam und wollte den Wagen wenden, was aber wegen des Staus nicht möglich war. »Es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Vergib mir! Bitte! Lauf nicht weg!«
Celia humpelte, so schnell ihr schmerzender Knöchel es zuließ, bis zu der Kanalbrücke, die sie vorhin überquert hatten. Unter sich sah sie eine Schleuse, die zum Kanal hin geöffnet war, über ihr lag der Bahndamm, auf dem eine Lokomotive ratterte und fauchte und dunklen Dampf ausstieß. Zusätzlich kreuzten sich hier zwei Straßen, was das Ganze zu einem unübersichtlichen Wirrwarr machte. Am Rand der Straße, gleich hinter einem Pfeiler der Eisenbahnbrücke, ging eine schmale Steintreppe zum Kanal hinunter. Ein Treidelpfad führte an dem Kanal entlang, an dem ein alter Händler seinen vertäuten Frachtkahn belud. Das Treidelpferd war bereits angeschirrt und wartete geduldig darauf, den Kahn zu ziehen. Wie früher, als es noch keine Dampfboote gegeben hatte.
»Celia, bitte!«, hörte sie Adams Stimme von der Straße. Offenbar hatte er seinen Wagen stehen lassen und war ihr zu Fuß gefolgt. »Ich wollte dich nicht schlagen. Das tut mir fürchterlich leid. Das musst du mir glauben.«
Celia rannte die Treppe hinunter und schaute sich suchend um, doch am Kanal gab es weder ein Versteck noch einen Ausweg. Auf der einen Seite befand sich die Schleuse zum Wasserbecken, auf der anderen die doppelte Eisenbahn- und Kanalbrücke, und der einzige Zugang war die Treppe. Wenn Celia auf dem offenen Treidelpfad am Kanal entlanglief, würde Adam sie unweigerlich sehen. Sie war in eine Sackgasse geraten.
»Jetzt sei doch nicht so!«, rief Adam über ihr. »Es kommt nicht wieder vor. Das bin ich nicht. Nicht mehr. Ich hab mich geändert. Du kannst alle fragen. Verzeih mir, Celia! Wo steckst du denn? Komm doch raus!«
Der Mann mit dem Kahn, der sein Boot inzwischen beladen hatte, rieb sich die Hände und nickte ihr zu. Celia erwiderte den Gruß nicht. Ihr liefen die Tränen über die Wangen, vor Schmerz und Wut, aber noch mehr aus Enttäuschung. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Käme Adam jetzt die Treppe herunter, würde er sie unweigerlich entdecken und sie mit ihm weiterfahren müssen. Auch wenn ihr der Gedanke daran zuwider war.
Wieder nickte der alte Treidler, und diesmal deutete er mit der Hand zu der schmalen Planke, die vom Ufer aus zu seinem Frachtkahn führte. Er lächelte aufmunternd und nickte abermals.
Jetzt erst begriff Celia. Sie lief zu dem Kahn, raffte ihre Kleider und betrat vorsichtig die Planke.
»Duck dich!«, sagte der Mann, als Celia die Ladefläche erreicht hatte. Und ehe sie sich versah, hatte er einen großen Leinensack über sie geworfen. Das Tuch roch angenehm nach Kaffeebohnen.
Nur wenige Augenblicke später hörte sie Adams dumpfe Stimme: »Guter Mann, haben Sie hier ein Mädchen gesehen?«
»Nay«, antwortete der Treidler.
»Ungefähr so groß, mit einem schlichten braunen Kleid.«
»Nay«, wiederholte der Mann.
»Sind Sie sicher?«
»Ay!«
Dann war Stille. Eine Weile passierte gar nichts, Celia hörte nur das Gluckern des Wassers unterm Kiel und am Kanalufer und dann und wann das Schnaufen des Pferdes und das Klirren des Zuggeschirrs. Die Geräusche waren so einlullend und Celia war so erschöpft und müde, dass sie beinahe eingeschlafen wäre. Die Worte ihrer Mutter fielen ihr wieder ein: »London laugt einen aus«. Mittlerweile konnte sie noch besser nachempfinden, was ihre Mutter damit gemeint hatte.
Ja, Celia fühlte sich ausgelaugt und wie ausgewrungen. Als wäre sie zur Ader gelassen worden. Am liebsten hätte sie sich auf ewig unter dieser Sackleinwand versteckt, mit dem Geruch nach Kaffeebohnen in der Nase und dem Plätschern des Wassers in den Ohren. Wie am Hafen von Brightlingsea,
Weitere Kostenlose Bücher