Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Friseur hatte ihr hinter vorgehaltener Hand und augenzwinkernd verraten, dass dies nichts anderes als »Pariser Hintern« bedeutete.
Vor dem linken Eingang ging es nicht ganz so gesittet zu, auch weil der Andrang vor der Tür um einiges größer war. Es wurde laut geschwatzt und gelacht. Hier trugen fast alle Besucher Straßenkleidung oder einfache Abendkleider: die Männer Sakkos oder altmodische Gehröcke mit Schiebermützen oder Strohhüten, die Frauen schlichte Kleider ohne unnötigen Firlefanz, von den üblichen Federn, Bordüren und Pelzbesätzen einmal abgesehen.
Damit sich die Pulks der Wartenden nicht vermischten oder in die Quere kamen, waren im Säulengang zwischen den Eingängen sowie auf der Freitreppe vor dem Portal hohe Eisenzäune errichtet. Das Gebäude nannte sich zwar Palast des Volkes, aber es war durchaus nicht unerheblich, aus welchem Teil des Volkes die Besucher stammten. Eine »schnieke Bude für feine Pinkel« hatte Heather den People’s Palace genannt. Doch auch wenn sie damit nicht unrecht hatte, war es doch nur die halbe Wahrheit gewesen. Das einfache Volk wurde nicht ausgeschlossen, es hatte lediglich seinen eigenen Bereich im Palast. Und seinen eigenen Eingang.
Neben der linken Tür hing ein Plakat, auf dem gleich mehrere Programmangebote in verschiedenen Veranstaltungsräumen angekündigt wurden. Ganz oben las Celia etwas von einer Taubenschau, darunter von einem Singspiel mit Klavierbegleitung, irgendwo stach ihr das Wort »Varieté« ins Auge, worunter sie sich jedoch nichts vorstellen konnte.
Neben dem Eingang verkaufte ein Bäcker frisches Gebäck, das köstlich duftete und Celias Magen laut knurren ließ. Sie hatte seit dem Mittag nichts gegessen und leistete sich für einen Penny zwei warme Scones mit Streichrahm. Gleichzeitig dachte sie daran, dass sie im Asyl in der Hanbury Street nichts für ihr Abendbrot hätte zahlen müssen, und ärgerte sich über die unnötige Geldverschwendung. Doch die Scones schmeckten wundervoll, und die Vorstellung, in wenigen Augenblicken einen richtigen Palast zu betreten, erschien ihr sehr viel verlockender als die Aussicht auf einen Gottesdienst der Heilsarmee. Und sei er noch so munter und erbaulich.
Als Celia das Gebäude durch den linken Eingang betreten wollte, wurde sie von einem Mann in dunkler Uniform angehalten. Für einen Moment glaubte sie, Adam stünde vor ihr, deshalb zuckte sie vor Schreck kurz zurück, doch es war nur ein livrierter Bediensteter des People’s Palace, der dafür zuständig war, die Besucher in die gewünschten Richtungen zu lenken. Während die Gäste des Konzertsaals vom Eingang aus direkt zum hell erleuchteten Foyer gingen, wie Celia durch eine farbige Glastür sehen konnte, befand sich hinter dem linken Eingang ein Gewirr von Gängen und Treppen, die zu den zahlreichen Nebenschauplätzen dieses Kulturpalastes führten. Dass es vor allem der Dienstmann war, der für das Gedränge vor dem Gebäude sorgte, schien ihm nicht klar oder wichtig zu sein.
»Wohin, Miss?«, fragte der Uniformierte.
»Ich möchte zur Bibliothek«, sagte Celia nach kurzem Überlegen. »Da, wo man die Zeitungen lesen kann. Also eigentlich alte Zeitungen, wenn’s die noch gibt.«
»Der Lesesaal ist seit zwei Stunden geschlossen«, antwortete er bedauernd und strich sich mit behandschuhten Fingern über den Backenbart. »Erst Montag wieder. Oder Sonntagnachmittag, wenn Sie Schülerin an der Technischen Schule sind.«
Celia schüttelte den Kopf, während sich die anderen Besucher ungeduldig an ihr vorbeizwängten und sich lautstark über die Verzögerung beschwerten.
»Tut mir leid, Miss.«
Celia nickte enttäuscht. Einen Augenblick lang wollte sie schon auf dem Fuß umkehren und wieder hinausgehen, was angesichts des Stroms der Hereindrängenden gar nicht so einfach gewesen wäre. Doch ebenso plötzlich änderte sie ihre Meinung. Wenn sie schon einmal hier war, so konnte sie sich den Palast auch anschauen. Schließlich kostete nur der Zutritt zu den Veranstaltungen etwas, das Betreten des Gebäudes selbst war frei. Celia erinnerte sich an das Plakat neben der Tür und fragte: »Was ist eigentlich ein Varieté?«
»Eine Art Music Hall«, antwortete der Uniformierte und lachte geziert. Seine Finger wanderten vom Backenbart zum Schnauzer, der an den Enden gezwirbelt war. »Auf Französisch klingt es ein wenig vornehmer.« Er deutete nach links und setzte hinzu: »Den Gang hinunter bis zur Treppe, dann ins zweite
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