Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
»Ich komme mit meinen vielen Namen manchmal selbst durcheinander.«
»Hast du heute schon deinen ersten Auftritt?«, fragte Celia. »Ich dachte, es geht erst nächste Woche los.«
»Stimmt, ich trete erst am Montag auf. Ich wollte mir den Laden noch mal bei Hochbetrieb anschauen. Außerdem musste ich meinen Vertrag noch unterschreiben und einige Kleinigkeiten klären.«
Celia deutete mit der Hand durch die Fensterscheibe zur Orgelbühne, wo gerade ein seltsames Gequäke und Gerassel der Instrumente ertönte, und fragte: »Bist du schon nervös? Vor so vielen Leuten aufzutreten, das stelle ich mir fürchterlich aufregend vor. Auch wenn die Besucher in den letzten Reihen überhaupt nichts von dir sehen werden. Der Saal ist ja riesig.«
»Nun ja«, antwortete Maureen, räusperte sich und zog Celia von dem Fenster weg. »Das mit der Großen Bühne war anscheinend ein Missverständnis.«
»Wieso?«
»Komm mit!«, antwortete Maureen und deutete zum Ende des Ganges, wo eine schmalere und steilere Treppe zum zweiten Obergeschoss führte. Während sich die Queen’s Hall auf der rechten Seite des Ganges befand (mit schmalen Sichtfenstern am vorderen und hinteren Ende), gingen auf der linken Seite in regelmäßigen Abständen Türen oder kleinere Durchgänge ab, die zu den Veranstaltungsräumen oder weiteren Nebengebäuden führten. Hinter einem dieser Durchlässe befand sich der sogenannte Wintergarten. Es handelte sich um das Gebäude mit dem Glasdach, das Celia von außen gesehen hatte. Zwar war der Wintergarten noch nicht völlig fertig, wie an dem Baumaterial auf dem Boden zu erkennen war, dennoch wurde auf einer Holztafel auf eine dortige Ausstellung zeitgenössischer Kunst hingewiesen. »Eintritt frei«, wie in großen Lettern zu lesen war.
»Was heißt zeitgenössisch?«, wollte Celia von Maureen wissen.
»Von heute, glaube ich«, antwortete Maureen achselzuckend. »Deswegen ist der Eintritt auch frei. Gegen Bezahlung würde sich das neumodische Zeug kein Mensch angucken.« Sie lachte, führte Celia am Wintergarten vorbei zum Fuß der Treppe und fragte: »Weißt du, was ebenfalls von heute ist?« Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und gab selbst die Antwort: »Mein Kleid. Heute Morgen in der Brick Lane gekauft. Wie findest du es?«
»Wunderschön«, entfuhr es Celia, und damit meinte sie nicht nur das Kleid. »Es steht dir wunderbar.«
»Nun übertreib mal nicht«, antwortete Maureen kopfschüttelnd, gab Celia aber dennoch einen Kuss auf die Wange. »Du bist lieb, Kindchen.«
»Ich bin kein Kindchen.«
»Aber lieb bist du trotzdem«, erwiderte Maureen, zwinkerte ihr zu und betrat die Treppe zum zweiten Stock. »Komm schon!«
»Was meintest du vorhin mit ›Missverständnis‹?«, knüpfte Celia an Maureens Bemerkung an, während sie die Treppe hinaufging und dabei erleichtert feststellte, dass ihr verstauchter Knöchel kaum noch schmerzte. Als sie einen letzten Blick zurück ins erste Obergeschoss warf, zuckte sie plötzlich zusammen. Vor dem Eingang zum Wintergarten stand ein vollbärtiger Mann in schäbigem Anzug, der das Hinweisschild betrachtete, als hätte er Schwierigkeiten, die Buchstaben zu entziffern. Der Mann hielt einen Schlapphut in der Hand und kratzte sich die Glatze, im Nacken und über den Ohren standen ihm seine wenigen Haare wie gerupfte Federn ab, sein üppiger, bis auf die Brust fallender Bart wirkte verfilzt und zottelig. Obwohl der Mann sein Gesicht abgewandt hatte und im nächsten Augenblick im Durchgang zum Wintergarten verschwunden war, glaubte Celia den hässlichen Kerl mit den Raubvogelaugen erkannt zu haben, der sie gestern beim Fackelzug so durchdringend angeschaut hatte.
»Das mit der ›Großen Bühne‹ hab ich leider in den falschen Hals bekommen«, erklärte Maureen, die das Ende der Treppe erreicht hatte und auf zwei Türen an der Stirnwand wies, zwischen denen ein Holzschild mit der Aufschrift »Varieté« hing. An der linken Tür war eine Plakette mit der Aufschrift »Kleine Bühne« angebracht, auf der rechten Tür stand »Große Bühne«.
Celia hatte etwas Mühe, sich auf Maureen und ihr Gespräch zu konzentrieren. In Gedanken wanderte sie immer wieder die Treppe hinunter zu dem hässlichen Zottelbart, doch als sie die Schilder an den Türen sah, begriff sie und sagte: »Nicht ganz so groß wie die Bühne im Konzertsaal.«
»Kann man wohl sagen«, antwortete Maureen und verdrehte die Augen. »Gerade mal zweihundert Leute passen in den Saal. Was aber immer
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