Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
dass die Köpfe der vier Schiffbrüchigen stets als Schattenriss oder im Halbdunkel abgebildet waren. »Nach Skizzen von Mr. Edwin Stephens, Maat«. Der Zeichner der Zeitung hatte also lediglich etwas nachgezeichnet. Oder kopiert und ausgeschmückt. Gab es bei Bildern auch so etwas wie »Hörensagen«?
Celia wollte das Papier bereits wieder zusammenfalten, um es zu den anderen Sachen in den Koffer zu legen, als ein Geistesblitz ihr plötzlich die Augen öffnete. Sie stierte auf die Zeitung und schüttelte ungläubig den Kopf. Celia hatte so sehr nach Kleinigkeiten und versteckten Hinweisen gesucht, dass ihr das Wichtigste und Auffälligste völlig entgangen war. Vor lauter Bäumen hatte sie den Wald nicht gesehen. Dabei hatte es sie die ganze Zeit aus den Bildern heraus angeschrien: vier Schiffbrüchige!
In dem Bericht über den Gerichtsprozess war von zwei Angeklagten die Rede gewesen: Thomas Dudley, Kapitän, und Edwin Stephens, Maat. Und von einem Opfer: Richard Parker, Kabinenjunge. Doch auf den beiden Bildern in der Zeitung waren vier Männer zu sehen, drei Männer mit Vollbart und einer ohne sichtbaren Bartwuchs. Vier Männer in einem Dingi.
Aber einer von ihnen war anschließend nicht mehr erwähnt worden. Als hätten ihn die Wellen geschluckt. Doch Celia kannte seinen Namen: Ned Brooks.
VIERTER TEIL
NED BROOKS
»The mere outlines of the tragedy are so revolting that we might under other cirumstances have set it down as the ravings of a brain disordered by hunger and hardship, but we fear that this last comfort is denied us.«
(»Die bloßen Umrisse der Tragödie sind so abscheulich, dass wir sie unter anderen Umständen vermutlich als irres Gerede eines von Hunger und Entbehrungen gestörten Hirns abgetan hätten, doch wir fürchten, dass uns diese letzte Beruhigung versagt ist.«)
The London Standard, September 1884
TAG 1
Montag, 19. Mai 1884
Es gab nicht wenige, die ihm dringend von der Fahrt abgeraten hatten. Die Mignonette sei mit ihren zwanzig Jahren bereits zu alt für eine solche Reise bis ans andere Ende der Welt. Außerdem sei die Segeljacht viel zu klein und mit einem Tiefgang von gerade einmal sieben Fuß nur für Küstengewässer und nicht für Ozeanfahrten geeignet. Ned hatte all die ernsten Mahnungen und gut gemeinten Ratschläge geduldig und schweigend angehört, doch sein Entschluss stand fest. Natürlich hatte auch er die Gerüchte über die mangelhafte Kielbeplankung gehört und wusste von der fehlenden Erfahrung des jungen Kapitäns, der noch nie den Äquator überquerte hatte. Tom Dudley stammte aus Tollesbury, nur einige Meilen von Brightlingsea entfernt, und war wie Ned jahrelang auf Rennjachten gefahren. Zuletzt war er Kapitän auf einer kleinen Dampfjacht gewesen und hatte auf dem Mittelmeer gekreuzt. Eine Hochseereise mit einer Segeljacht hatte er bislang noch nicht unternommen. Doch mit Edwin Stephens hatte der Kapitän einen erfahrenen Maat angeheuert, der dieses Manko mehr als wettmachte, weil er bereits häufig das Kap der Guten Hoffnung umsegelt hatte. Nein, Bangemachen galt nicht. Ned Brooks würde am heutigen Montag, einen Tag nach seinem achtunddreißigsten Geburtstag, als Vollmatrose und Schiffskoch auf der Mignonette nach Australien auslaufen. Komme, was da wolle.
Das Angebot war einfach zu verlockend gewesen. Nicht nur wegen der üppigen fünf Pfund zehn Shilling im Monat, die ihm der Kapitän für die Dauer der Reise versprochen hatte. Auch die Aussicht, in Sydney für annähernd dieselbe Heuer weiter auf der Rennjacht arbeiten zu können, erschien Ned äußerst reizvoll. Die Mignonette gehörte einem australischen Anwalt, der sie in England gekauft und nun in seine Heimat schippern lassen wollte, um dort mit ihr an Segelregatten teilzunehmen. Der Mann schien ebenso exzentrisch wie reich zu sein, denn es wäre natürlich viel einfacher und billiger gewesen, in Sydney einen ähnlichen Einmaster zu kaufen. Doch aus irgendeinem Grund schien der Anwalt sich in die Mignonette verguckt zu haben, und da sie mit ihren dreißig Tonnen zu schwer war, um auf einem Frachter transportiert zu werden, sollte sie nun selbst um die halbe Welt segeln. Ned war schon auf vielen Rennjachten gefahren und kannte sich in seinem Metier aus. Auch die Ozeane hatte er häufig befahren, allerdings nur auf den Dampfern der großen Linien.
Der eigentliche Grund jedoch, warum er so erpicht darauf gewesen war, auf der Mignonette anzuheuern, war das Ziel der langen Reise: die
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