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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Tiere war ohnehin längst aufgebraucht. Sie waren allesamt erschöpft und ermattet, und mit dem Schwinden der Kräfte stieg die Reizbarkeit, aber ein Ende des Sturms war nicht in Sicht.
    Dabei hatte die Fahrt so verheißungsvoll begonnen. Kapitän Dudley hatte seiner Crew den ehrgeizigen Plan vorgestellt, die Strecke nach Sydney in gerade einmal 120 Tagen zu bewältigen und dabei 120 Meilen am Tag zurückzulegen. Ned bezweifelte zwar, dass dies mit einer einmastigen Segeljacht möglich war, behielt seine Meinung aber für sich. Wann sie in Sydney ankamen, war ihm letztlich egal, schließlich nahmen sie nicht an einer Regatta teil. Wichtig war allein, dass sie es überhaupt bis nach Australien schafften.
    Am 2. Juni, zwei Wochen nach dem Auslaufen in Southampton, erreichten sie Madeira und füllten dort die Vorräte auf. Nur eine Woche später passierten sie bereits die Kapverdischen Inseln. Weil noch genug Fleisch, Gemüse und Wasser an Bord war, liefen sie keinen Hafen an, sondern nützten die günstigen Winde, um möglichst schnell zum Kap zu gelangen.
    Sie überquerten den Äquator am 17. Juni, fast genau einen Monat nachdem sie im Hafen von Southampton den Anker gelichtet hatten. Nach altem Seemannsbrauch erhielt Kapitän Dudley seine Äquatortaufe, indem er von den anderen ordentlich mit Sand abgerieben und anschließend mehrmals grob unter Wasser getaucht wurde. Eigentlich hätte auch Dick Parker die Taufe beim erstmaligen Überfahren des nullten Breitengrades erhalten müssen, doch die anderen sahen in seinem Fall davon ab. Sie hatten ihren derben Spaß mit Tom Dudley gehabt, und das musste reichen.
    Anders als die meisten anderen Seefahrer war Ned kein abergläubischer Mensch, auch wenn er gern Seemannsgarn spann und sämtliche Schiffsrituale kannte und bereitwillig mitmachte. Allerdings glaubte er nicht an Klabautermänner, Riesenkraken und Monsterwellen, auch nicht an böse Omen oder Unheil verkündende Vorzeichen. Die Äquatortaufe war für ihn nur ein harmloser Schabernack, bei dem der Meeresgott Neptun durch die Reinigung der Neulinge gnädig gestimmt werden sollte. Ein alberner Spaß, mehr nicht. Dass sie bei Dick auf die obligatorische Taufe verzichtet hatten, kümmerte oder besorgte ihn nicht. Weil Kapitän Dudley während der Fahrt jeden Alkohol verboten hatte, fiel der interessanteste Teil der Äquatortaufe, die abschließende Trinkzeremonie, ohnehin ins Wasser. Andernfalls hätte Ned bestimmt auf einer zweiten Taufe bestanden.
    Doch mit dem Passieren des Äquators begannen die Probleme an Bord und die Tücken des Wetters. Zunächst gelangten sie in den Kalmengürtel, der sich zwischen dem Nordostpassat auf der Nordhalbkugel und dem Südostpassat auf der Südseite des Äquators erstreckte; sie gerieten in eine für diese Gegend typische, lang anhaltende Flaute. Es war so heiß und stickig unter Deck, dass die Männer die ganze Zeit im Freien verbrachten und auch an Deck schliefen. Der Stillstand und das unfreiwillige Nichtstun drückten zusehends auf die Laune. Zugleich sickerte immer mehr Wasser durch den Kiel, weshalb der Kapitän befahl, die Beplankung mit Pech und Werg zu kalfatern. Der Gestank trug bei der brütenden Hitze nicht gerade zur allgemeinen Belustigung bei.
    Am 25. Juni schlug das Wetter plötzlich um. Als die steife Brise aufkam, glaubte Ned zunächst, sie hätten endlich die Kalmen verlassen und die südöstlichen Passatwinde erreicht, doch ein Blick über die Luvseite des Schiffes belehrte ihn eines Besseren. Eine tiefschwarze Wand baute sich im Westen auf und näherte sich ihnen schneller als eine Dampflokomotive. Nur wenige Minuten später traf eine Sturmbö auf das Großsegel und ließ es wie eine Peitsche knallen. Der Regen klatschte in dicken Tropfen aufs Wasser, die See baute sich in Sekundenschnelle bedrohlich auf, das Schiff schlingerte wie angestochen hin und her und bekam starke Schlagseite.
    »Alle Mann an Deck!«, rief der Maat und klammerte sich ans Ruder. Der erste von drei aufeinanderfolgenden Stürmen hatte sie gepackt.
    Zehn Tage war das nun her. Sie ahnten damals, als der erste Sturm fünf Tage lang aus Nordwesten auf sie einpeitschte, noch nicht, dass ihnen das weitaus Schlimmste noch bevorstand. Am letzten Junitag drehte der Wind mit einem Mal auf Südwest, ohne dass das Unwetter an Heftigkeit nachließ. Kapitän Dudley ließ das Großsegel bergen und stattdessen das Trysegel setzen, ein kleines, dreieckiges Sturmsegel aus schwerem Segeltuch. Doch an ein

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