Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
noch ein Geschenk für dich. Hab ich gestern in einer Buchhandlung in der Brick Lane entdeckt. Das ganze Buch konnte ich nicht mitgehen lassen, war so ’n dicker Sammelband in Leder, aber die eine Seite tut’s vermutlich auch.«
»Mitgehen lassen?«, erschrak Celia. »Du hast es geklaut?«
»Na, kaufen konnte ich es nicht. Hab ja kein Geld.« Heather lachte schelmisch, reichte Celia das Papier und sagte: »Vielleicht hilft es dir weiter. Ich wünsch dir viel Glück. Man sieht sich, Celia. Und pass auf dich auf!« Sie gab Celia einen Kuss und verschwand nach unten.
Celia wagte kaum, das Papier auseinanderzufalten. Als sie ängstlich mit dem Zeigefinger darüberfuhr, bemerkte sie, dass ihr Finger geschwollen und bläulich angelaufen war. Sie erinnerte sich, dass sie am Freitag während des Fackelzugs von etwas gebissen worden war; vermutlich von einer der Ratten, die später auf die Heilsarmisten losgelassen worden waren. Sie steckte den Finger in den Mund und nahm das Papier in die andere Hand. Als sie schließlich den Mut fand, es auseinanderzufalten, stockte ihr der Atem. Oben auf dem Blatt sah sie das bekannte Panorama von London, mit der Kathedrale von St. Paul in der Mitte, und darüber den verschnörkelten Schriftzug: » The Illustrated London News «. Es handelte sich um eine Titelseite der Wochenzeitung, doch anders als bei der Ausgabe aus dem Dezember 1884, die Celia in der Dose ihrer Mutter gefunden hatte, befanden sich auf der Frontseite keine Berichte oder Nachrichten, sondern lediglich zwei großformatige und einzeilig kommentierte Bilder, die den gesamten Platz einnahmen. Es war die Ausgabe von Samstag, dem 20. September 1884, und an dem Zackenrand an der linken Seite erkannte Celia, dass Heather das Blatt aus einem Folianten herausgerissen haben musste. Die beiden Bilder zeigten ein Ruderboot auf hoher See. Es handelte sich um ein sogenanntes Dingi, wie man es als Beiboot auf Segeljachten benutzte. Über den Bildern las Celia die Schlagzeile: »Der Verlust der Jacht Mignonette – nach Skizzen von Mr. Edwin Stephens, Maat«.
Celia ging zurück zu ihrem Bett, legte das Papier auf die Decke und musste sich setzen. Minutenlang starrte sie auf die Bilder, ohne wirklich etwas darauf zu erkennen, und wieder stieg ihr die Galle hoch. Den Namen Edwin Stephens kannte sie bereits aus dem Bericht über den Kannibalismus-Prozess, und dennoch war es ihr beim Lesen, als schlüge ihr jemand mit der Faust in den Magen. Sie zwang sich, die Untertitel zu lesen. Unter dem ersten Bild stand: »Segeln vor dem Wind: Wie das Dingi während der letzten neun Tage gehandhabt wurde«. In der Illustration war das Boot zu erkennen, wie es zwischen hohen Wellen schaukelte. Die Schiffbrüchigen hatten einen provisorischen Mast errichtet, mit drei aneinandergeknoteten Oberhemden als Segel. Unter dem zweiten Bild las Celia: »Wie das Dingi bei schwerem Wetter gehandhabt wurde: Mit dem ›See-Anker‹ aus Treibholz und Gitterwerk«. Das dazugehörige Bild zeigte das Dingi, wie es mit dem Heck voran einem Sturm trotzte. An dem nach achtern gehenden Bug hing ein Tau, an dem die Schiffbrüchigen ein Holzgestell und ein schweres Gräting, eine Art Schiffsgitter, befestigt hatten. Durch diesen Treibanker wurde die Abdrift des Bootes verringert und auf diese Weise verhindert, dass das Dingi wie eine Nussschale von den Wellen herumgeschleudert wurde.
Celia drehte das Blatt um und hoffte, auf der Rückseite einen Bericht über den Schiffbruch oder den späteren Mord auf hoher See zu entdecken. Doch sie fand nur einen Hinweis auf weitere Illustrationen auf der letzten Seite der Zeitung und mehrere Artikel, die sich mit völlig anderen Themen beschäftigten: dem Ausbruch der Cholera in Paris, den Vorbereitungen zur britischen Nil-Expedition, dem Krieg zwischen Frankreich und dem chinesischen Kaiserreich. Der Untergang der Jacht Mignonette wurde mit keinem weiteren Wort erwähnt.
Zunächst war Celia enttäuscht, doch dann dachte sie daran, dass Heather ihr ja sagen konnte, in welcher Buchhandlung sie den Sammelband entdeckt hatte; dann könnte Celia selbst in dem Folianten blättern und die fehlenden Seiten durchlesen. Auf einen Tag mehr oder weniger kam es nun wirklich nicht an.
Wieder betrachtete sie die Titelseite der Zeitung, doch diesmal schaute sie nicht auf das große Ganze, sondern konzentrierte sich auf die Details. Sie versuchte, die Gesichter der Männer im Boot zu erkennen, doch die Illustrationen waren so gezeichnet,
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