Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Schlag hatte glücklicherweise keine sichtbaren Spuren hinterlassen, weder eine Schwellung noch ein blaues Auge. Auch der verstauchte Knöchel schmerzte kaum noch.
Als sie in die Küche kam, wurde sie von den Frauen, die bereits beim Frühstück saßen, mit seltsamen Blicken begrüßt. Einige tuschelten, andere grinsten anzüglich, doch alle schauten beiseite, wenn Celia ihren Blicken begegnete. Auch die alte Esther hatte gestern Nacht seltsam dreingeschaut, als Celia gegen elf Uhr vor der Tür des Frauenasyls erschienen war. Auf Celias Frage, ob etwas passiert sei, hatte Esther lediglich mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Geh schlafen! Morgen ist auch noch ein Tag.«
Der Haferbrei schmeckte fade, der Tee war lauwarm und bitter, und keiner redete ein Wort mit ihr. Immer wieder war ein leises Munkeln oder unterdrücktes Kichern zu hören. Celia kam sich vor, als hätte sie etwas verbrochen, ohne sich jedoch einer Schuld oder Verfehlung bewusst zu sein. Die anwesenden Heilsarmistinnen waren ihr unbekannt, weder Esther noch Captain Florence waren zugegen. Also würgte sie das klumpige Porridge hinunter, spülte mit dem Tee nach und beeilte sich, den Essraum wieder zu verlassen. Wie gut, dass sie bereits eine neue Unterkunft hatte. Im Frauenasyl schien sie aus unerfindlichen Gründen in Ungnade gefallen zu sein. Es konnte doch unmöglich daran liegen, dass sie gestern Abend dem Gottesdienst zu Ehren der Generalin ferngeblieben war. Oder bildete sie sich das alles nur ein?
Celia ging hinauf in den Schlafraum, um ihren Koffer zu holen, und stieß in der Tür beinahe mit Heather zusammen, die eine zerschlissene Reisetasche geschultert hatte und vor Schreck laut aufschrie.
»Jesses!«, rief sie mit ihrer heiseren Stimme und fasste sich an die Brust. »Du kannst einen vielleicht erschrecken. Was glotzt ’n so komisch? Ist was?«
»Kannst du mir erklären, was hier los ist?«, fragte Celia und berichtete von der Frühstücksszene.
»Ach, das!«, lachte Heather, klopfte Celia aufmunternd auf die Schulter und folgte ihr zu ihrem Bettkasten. »Mach dir nichts draus! Das ist nur wegen dem verrückten Bedford.«
»Adam?«, wunderte sich Celia. »Was ist mit ihm?«
»Hast dem Kerl ganz schön den Kopf verdreht«, meinte Heather und ließ sich ächzend auf ihrem Bett nieder. »Junge, Junge, hat der hier einen Aufstand gemacht! So ein verrückter Hund!«
»Was? Wann?«, entfuhr es Celia. »Wovon redest du?«
»Von gestern Abend«, sagte Heather und lachte abfällig. »Vor dem Haus hat er gestanden und rumkrakeelt. Dass er unbedingt mit dir sprechen muss, um sich zu entschuldigen. Er wär jetzt ein anderer Mensch. Er hätte sich geändert. Irgendwas in der Art. Der war gar nicht mehr zu beruhigen und hat geflennt wie ein Schuljunge, der vom Lehrer was auf die Finger bekommen hat. War ’n ganz schönes Theater, das kannst du mir glauben. Alle haben an den Fenstern gestanden und sich über ihn lustig gemacht. Aber der hat sich einfach nicht mehr eingekriegt. Als wär er betrunken. War er vielleicht auch.«
Celia schüttelte fassungslos den Kopf und brachte kein Wort heraus.
»Der wollte einfach nicht glauben, dass du nicht im Haus bist«, fuhr Heather fort. »Dachte wohl, du würdest dich vor ihm verstecken. Er hat gezetert, als hätte er komplett den Verstand verloren. Erst als Captain Florence kam, hat er sich langsam beruhigt und ist schließlich wie ein begossener Köter davongeschlichen. Das Gegröle der Mädels kannst du dir vorstellen.« Heathers belustigte Miene nahm plötzlich einen nachdenklichen Ausdruck an, dann setzte sie kopfschüttelnd hinzu: »Mensch, Celia! Ausgerechnet der verrückte Bedford! Wie bist ’n bloß an den gekommen?«
»Ich bin überhaupt nicht an den gekommen«, protestierte Celia und holte ihren Koffer unter dem Bett hervor. »Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist. Gestern ist er plötzlich aus der Haut gefahren. Der war mit einem Mal wie verwandelt. Ich hab’s mit der Angst zu tun bekommen und bin vor ihm weggelaufen.« Sie dachte an Adams irren Gesichtsausdruck, und wieder schauderte es sie. Dann fragte sie: »Woher kennst du ihn überhaupt?«
»Bedford? Den kennt hier jeder«, schnaufte Heather verächtlich. »Und alle nehmen sich in Acht vor ihm. Dem ist nämlich nicht zu trauen. So ’ne fromme Uniform macht noch keinen neuen Menschen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Celia und erinnerte sich an die seltsamen Andeutungen, die Captain Florence gemacht hatte. »Was ist
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