Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
sein und sich schmutzig gemacht zu haben. Auch wenn er der Einzige war, der diesen Schmutz sehen konnte.
Vor nunmehr vier Jahren hatte er seine Familie in Brightlingsea verlassen, und obwohl er die Kinder mitunter vermisste und gern erfahren hätte, wie es ihnen inzwischen ergangen war, wusste er doch, dass er das Richtige getan hatte. Wenn auch zu einem falschen, einem viel zu späten Zeitpunkt. Als er Hutchinson in der County Tavern getroffen hatte, wäre es ein Einfaches gewesen, ihn nach Mary und den Kindern zu fragen, doch das hätte so ausgesehen, als täte ihm seine damalige Entscheidung leid. Also hatte er lediglich geschimpft, die ganze verdammte Bagage in Brightlingsea könne ihm auf immer gestohlen bleiben. Was zugleich die Wahrheit und eine Lüge war.
Wenn er erst einmal in Sydney wohnte und an den sonnigen Küsten Australiens entlangsegelte, könnte ihm das alles einerlei sein, dann würde das Vergangene irgendwann vergessen sein. Und damit auch das schlechte Gewissen und die Selbstvorwürfe. Denn er hatte sich nichts vorzuwerfen. Davon war er fest überzeugt. Trotz allem.
Die Mignonette lief um sechs Uhr mit der Nachmittagsflut aus. Zwei Tage würden sie in südwestlicher Richtung der englischen Südküste folgen, bevor sie am Leuchtturm von Eddystone die Richtung ändern und Kurs auf Madeira nehmen würden. Neben Kapitän Tom Dudley und dem Maat Edwin Stephens gab es ein weiteres Besatzungsmitglied an Bord, den Kabinenjungen Richard Parker, der als ungelernter Leichtmatrose für die niederen Tätigkeiten zuständig war und Ned in der Kombüse zur Hand gehen sollte. Zu seinen Aufgaben zählte es auch, sich um die beiden Ferkel und das Federvieh zu kümmern, die im Laufe der Reise geschlachtet werden sollten, um als Frischfleisch zu dienen. Als Schiffskoch war Ned dafür verantwortlich, die Tiere zu töten und zu zerlegen. Auch darin hatte er mit den Jahren einige Übung bekommen.
Richard, der erst siebzehn Jahre alt war und von allen Dick genannt wurde, war ein netter, sehr aufgeschlossener und stets fröhlicher Bursche, der sich wie ein kleiner Lausejunge auf die Reise freute. Es war seine erste Fahrt auf hoher See, und auch ihm hatte man das Angebot gemacht, nach der Ankunft in Australien Mitglied der Crew zu bleiben. Dick war ungemein wissbegierig und fleißig, es machte ihm nichts aus, dass ihm die kleinste Koje zugewiesen wurde und er die dreckigste Arbeit zu verrichten hatte. Er schien die ganze Reise als lustiges Abenteuer zu betrachten. Die Fahrt auf der Mignonette würde aus ihm einen Mann machen.
Um Mitternacht begann Neds erste Nachtwache, und als die Glocke acht Glasen schlug und er sich auf seinen Posten begab, machte sich auch in ihm ein seltsames Hochgefühl breit. Hinter ihnen verschwand der Leuchtturm von Eddystone am Horizont, und vor ihnen lag die dunkle Weite des Atlantiks. Edwin Stephens, als Maat für die Positionsbestimmung und das Führen des Logbuchs verantwortlich, schrieb auf eine leere Seite: »Wir liefen aus und warfen einen letzten Blick auf die Heimat.«
Doch Neds Blick richtete sich nur nach vorne. Auf die Zukunft. Was vergangen war, zählte nicht mehr. Er ließ es hinter sich zurück. Für immer.
TAG 48
Samstag, 5. Juli 1884
Seit mehr als zehn Tagen kämpften sie nun schon gegen Stürme an, die beinahe ununterbrochen aus ständig wechselnden Richtungen auf sie eindroschen, als wollten sie das kleine Schiff unter den sich hoch auftürmenden Wellen zerquetschen. Noch nie hatte Ned ein solches Unwetter erlebt. Die See war wie wild geworden, die Sturmböen peitschten über das wirbelnde Wasser, ließen die gerefften Segel knallen, und der Regen prasselte unermüdlich auf sie ein, als stünde ihnen eine zweite Sintflut bevor. Seit Tagen hatten sie kaum geschlafen. Entweder waren sie an Deck vollauf damit beschäftigt, das Schiff hart am Wind zu steuern, ohne die Kontrolle über das gelaschte Ruder, die Taue und die zum Bersten gespannten Segel zu verlieren, oder sie arbeiteten unter Deck an den Pumpen, um das durch den schadhaften Kiel eindringende Wasser nach draußen zu befördern.
Selbst wenn zwischendurch der Sturm etwas nachließ und sie kurz verschnaufen konnten, ließen das wütende Stampfen der See und das abrupte Auf und Ab der Planken sie nicht zur Ruhe kommen. Hinzu kam, dass sie wegen des Seegangs den Herd in der Kombüse nicht benutzen konnten und sich seit Tagen von Schiffszwieback und Trockenobst ernährten. Das Frischfleisch der geschlachteten
Weitere Kostenlose Bücher