Vor dem Sturm (German Edition)
Arbeitslastern und Ketten die Straßen von Bäumen und brennenden, nassen, rauchenden Feuern befreiten, schliefen wir auf dünnen Pritschen auf Big Henrys Wohnzimmerfußboden, und seine Mutter sagte flüsternd in der Küche zu Big Henry: »Sind sie nicht einer mehr?«
»Jepp«, sagte er. »Er sucht seinen Hund.«
»Solange wie nötig«, sagte sie. »Wenigstens sind sie noch am Leben.«
»Jepp«, sagte Big Henry, und ich wusste, er betrachtete uns: Junior in meiner Achselhöhle, der im Schlaf zuckte und schwitzte, Daddy reglos wie ein Stein auf dem Sofa, Randall auf dem Bauch liegend, den Kopf in den verschränkten Armen begraben, fast diagonal in dem kleinen Wohnzimmer ausgestreckt. Ein, zwei durchnässte Insekten summten draußen, und ich fragte mich, wo Skeetah war, sah ihn an einem Feuer sitzen, den Kopf in die dunkle Nacht geneigt, die heiß geworden war, nachdem die kalte Luft, die der Sturm hinterlassen hatte, abgezogen war. Wartend.
Big Henry und sein Onkel Solly, der den Generator gebracht hatte und groß und dünn ist und überall auf seinen Unterarmen unscharfe, selbstgemachte Tattoos hat, unterhalten sich an der Haustür. Die Sonne hat die letzten Wolken, die dem Sturm gefolgt sind, weggefegt. Sie scheint durch den Türrahmen, mogelt sich an Big Henry vorbei und verbrennt mir das Gesicht.
»Die Brücke ist weggespült worden.«
»Die alte über den Bayou? Die erste oder die zweite?«
»Die kleine dritte.«
»Und die Brücke auf der Ostseite?«
»Die ist heil. Die Straße ist überschwemmt, heißt es, aber man kann durchfahren.«
»Wie sieht’s da aus?«
Solly räuspert sich. Spuckt aus.
»Schlimm.« Er räuspert sich noch mal. »Richtig schlimm.« Solly zuckt die Achseln. »Was hat deine Mama gesagt, wo soll ich die Plane hintun?«
Big Henry führt ihn nach draußen und zeigt ihm die kaputteStelle im Dach. Er ist barfuß, und seine Füße sehen weiß und zart aus wie bei einem Baby.
»Esch.« Daddys Stimme vom Sofa klingt, als hätte er einen Topfschrubber im Hals. Ich wende den Kopf gerade so weit, dass ich aus dem Augenwinkel sein Gesicht erkennen kann. So nähert man sich einem unbekannten Hund, dem sich das Fell sträubt.
Daddy gibt ein leises Summen von sich. Er setzt sich auf und faltet seine unbrauchbare und seine gute Hand über seinem Bauch. Starrt den toten Fernseher an.
»Was Skeetah gesagt hat. Stimmt das?«
Ich betrachte den Teppich, der braun und fusslig ist und am Rand des Sofas, auf dem Daddy liegt, flauschig wird, weil dort noch nie jemand auf ihn getreten ist. Ich nicke, lasse meinen Kopf wenige Zentimeter in meine Kopfkissen rutschen.
Daddy macht ein schnalzendes Geräusch. Räuspert sich und schluckt.
»Ich hätte dich nicht wegstoßen dürfen«, sagt er.
Er reibt sich mit der gesunden Hand übers Gesicht wie eine Katze, die sich Kinn und Nase putzt. Seine Nase und seine Wangen sind fettig und glänzen im Dunkeln. Ich bin still, spüre jedes Ein- und Ausatmen so heftig wie eine Explosion.
»Es … ist passiert«, flüstert Daddy und hält inne.
Ich bewege schnell meine Augenlider, habe ein Gefühl, als hätte mir jemand kochendes Wasser über die Brust geschüttet und mein Gesicht bespritzt.
»Tut mir leid«, sagt Daddy.
Ich will sagen:
Ja.
Oder
Ich weiß
. Oder
Mir tut es auch leid
. Aber ich quieke nur leise, wie eine Maus. Frage mich, wo das Baby schlafen wird, ob es wohl zusammengerollt bei mir im Bett liegen wird. Ob ich Junior beibringen werde, wie man ihm die Flasche gibt, so wie Daddy es uns beigebracht hat. Er ist jetzt alt genug.
»Wie lange schon?«, fragt Daddy.
»Ich weiß nicht.« Meine Stimme ist so hoch, dass es klingt, als würde jemand anderes sprechen, als könnte ich mich umdrehen und ein anderes Mädchen auf dem Boden zwischen ihren Brüdern liegen sehen, das diese Fragen beantwortet.
»Sobald es geht, müssen wir das herausfinden.«
»Ja«, sage ich und schaue ihn an, sehe, dass er in sich zusammengekauert ist, weich ist statt hart wie sonst, dass seine starre Haltung schlaff geworden ist. Sehe seine hilflose Hand. Junior wird das Baby füttern, mit zwei Kissen als Armstützen auf dem Bett sitzen. Dafür wird er lange genug stillsitzen können.
»Sichergehen, dass alles okay ist.«
Ich nicke.
»Damit nichts schiefgeht.«
Daddy reibt mit seiner gesunden Hand über seine Hosentasche. Ich höre Plastik knistern. Für einen Augenblick sitzt Mama neben ihm auf dem Sofa, einen Arm auf seinen Schoß gelegt, während sie sein Knie
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