Vor dem Sturm (German Edition)
noch stehen, hängt ein Quad. Ein Parkplatz, auf dem der Eigentümer sonst Sattelzugauflieger abgestellt hatte, ist leer: Acht davon liegen jetzt falsch herum auf der anderen Straßenseite wie unaufgeräumte Legosteine, und zerdrücken die Bäume. Was mal eine Wohnwagensiedlung war, ist jetzt ein Haufen umgefallener Dominosteine. Ein Wohnwagen liegt auf einem anderen Wohnwagen, der auf einem anderen Wohnwagen liegt; sie sind aufgestapelt wie Bücher. Und überall sind Leute, die halb ertrunken aussehen; ein alter weißer Mann und ein alter schwarzer Mann lagern draußen auf einer Plane, die sie unter einem einzelnen jungen Baum ausgebreitet haben; eine vietnamesische Familie hat über einer eisernen Abschleppstange, wie man sie für Wohnmobile benutzt, Laken zu einem Zelt drapiert und darunter als Fußboden Sperrholzplatten gelegt; junge Mädchen und Frauen plündern den Parkplatz und die Überbleibsel einer Tankstelle, durchsuchen die Trümmer nach etwas Essbarem, irgendetwas Brauchbarem. Menschen stehen in Grüppchen an ehemaligen Kreuzungen, von denen die Verkehrsschilder verschwunden sind. Mit einer Plastiktüte zu ihren Füßen, die ihre ganze Habe enthält, warten sie auf jemanden, der sie abholt. Niemand kommt.
»Was?«, sagt Big Henry, als hätte jemand ihm eine Frage gestellt.
Eine ältere Frau sitzt an der Ecke einer der kleineren Straßen, in die wir einbiegen, um zu der großen Straße zu gelangen, die näher am Strand verläuft. Sie hat sich ein Handtuch auf den Kopf gelegt, und der Stuhl aus Plastik und Metall, auf dem sie sitzt, neigt sich nach links. Sie winkt uns zu, und wir bleiben stehen.
»Da unten kommt man nich durch. Nich mal nah ran.«
»Ja, Ma’am«, sagt Big Henry.
»Habt ihr irgendwas zu essen?«, fragt sie. An der Seite fehlen ihr die Zähne, und ihre Haut hat diese Zwischenfarbe, bei der ich nicht sagen kann, ob sie eine Weiße oder eine hellhäutigeSchwarze ist; auf jeden Fall ist sie alt; die Linien in ihrem Gesicht kräuseln sich so, als wären ihre Nase, ihre Augen und ihre Lippen Steine, die jemand in ein stilles Gewässer geworfen hat.
»Ja«, sage ich und fische ein Päckchen von den Instant-Nudeln heraus, die wir mitgebracht haben, reiche es Big Henry nach vorne, und er reicht es durchs Fenster an sie weiter. Sie greift danach, schaut es an und fängt an zu lachen. Man sieht hauptsächlich Zahnfleisch. Auf ihrem T-Shirt ist ein blauer und ein rosafarbener Teddybär abgebildet, und es war früher einmal weiß.
»Na schön, na schön.« Sie lacht. »Na schön.«
Big Henry fährt, so weit er kann, was nur noch ungefähr dreißig Meter sind, hält dann langsam an, lenkt den Wagen so dicht an den Straßenrand, wie es geht, ohne dass er in den Graben fährt, und parkt. Die Seiten des Wagens sind mit Schlammspritzern überzogen, wie mit einem Spitzenmuster. Junior klettert wieder auf Randalls Rücken, und Randall hievt ihn hoch und verschränkt die Arme unter seinen Beinen. Juniors Wange streift Randalls: Seit dem Hurrikan habe ich ihn Junior nicht absetzen sehen. Mitten auf der Straße steht ein Haus, direkt vor uns, als wolle es die Geheimnisse bewachen, die wir weiter unten entdecken werden. Wir gehen um das Haus herum.
Es sind noch mehr Häuser auf der Straße. Eins davon, viereckig wie ein Karton, zweistöckig, wurde von seinem Fundament gerissen und zur Seite gewirbelt. Ein weiteres ist auf einem anderen Haus gelandet, Holz auf Stein, und dort liegen geblieben. Die Betonfundamente erheben sich etwa einen Meter hoch aus dem Boden, sie wirken mager und erwartungsvoll, ihrer Häuser beraubt. Eine Frau mit Baseballkappe wühlt in den Trümmern eines eingestürzten Hauses; ihr Sohn, dem Aussehen nach ungefähr in Juniors Alter, hockt am Straßenrand im Sand und starrt uns mit vorgeschobenen Lippen nach, als wir vorbeigehen. Ein Mann im gelben T-Shirt stochert mit einem Stock im Schutt umdas Fundament seines Hauses herum. Wir kommen zu der Stelle, wo früher die Grundschule stand, die Turnhalle, in der Randall vor ein paar Tagen um die Chance, ins Basketball-Camp zu fahren und von einem College-Scout entdeckt zu werden, weil er Talent hat, weil er Randall ist, gespielt und verloren hat, in der Manny erkannt hat, wer ich bin, und mich verleugnet hat, in der Skeetah sich für mich geprügelt hat, und dort ist nichts weiter als ein großer Haufen Stahl und nasses Holz, und plötzlich tut sich ein riesiger Graben auf zwischen jetzt und damals, und ich frage mich, wo die Welt, in
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