Vor Jahr und Tag
an ihm vorbei, ja durch ihn hindurch. Dexter schauderte plötzlich trotz der schwülen Hitze dieser südlichen Sommernacht. Seit Vietnam fühlte er sich nicht mehr zugehörig, doch jetzt kam ihm die Kluft noch viel tiefer vor, als würden ihn die Touristen nicht mal hören, wenn er schrie.
Ein seltsames Gefühl war das. Wieder überlief ihn ein Schaudern. Er ging die Bourbon entlang, warf im Vorbeigehen einen Blick in die offenen Lokale, nahm das ausgelassene Gelächter und die Musik jedoch nur wie aus weiter Entfernung wahr. Hier waren noch besonders viele Nachtschwärmer unterwegs und berittene Polizisten, deren Hufgeklapper laut auf den Pflastersteinen dröhnte. Dexter ging unwillkürlich schneller, auf der Suche nach einer dunklen Gasse, wo er ein Weilchen in Deckung gehen und dieses unheimliche Gefühl abschütteln konnte. Aber hier war er nicht in den Außenbezirken der Stadt, hier befand er sich mitten im French Quarter, wo Gassen gewöhnlich Eingänge zu Hinterhöfen markierten. Und wenn es sich dabei um private Hinterhöfe handelte, waren die Eingänge gewöhnlich mit schmiedeeisernen Gittern versperrt. Und wenn es der Hinterhof eines Restaurants war, dann würde er dort wohl kaum seine Ruhe finden.
Er ermahnte sich, daß er nicht wegen der Ruhe hierhergekommen war; er war wegen des Rummels auf der Bourbon Street gekommen, weil er dort in dem Gewimmel der Fußgänger leicht untertauchen konnte. Alles, was er tun mußte, war, dieses eigenartige Gefühl abschütteln und weitermachen wie gehabt. Vielleicht sollte er New Orleans ganz den Rücken kehren, jetzt, wo ihm Medina auf den Fersen war.
Medina. Als Dexter darüber nachdachte, fiel ihm auf einmal ein, was ihn so sehr an der Sache störte, was ihm so unheimlich vorkam. Medina war niemandes Bluthund. Der Mann besaß Prinzipien. Viel konnte in den Jahren passieren, Dinge, die die Menschen veränderten, doch es bräuchte schon ein wahres Wunder, um aus Rick Medina einen Mietkiller zu machen.
So, wie er es sah, gab es drei Möglichkeiten: Erstens, man hatte Medina belogen, aber diese Überlegung kam ihm aufgrund von Medinas Persönlichkeit als die unwahrscheinlichste vor. Er würde es nie verzeihen, wenn man ihn benutzte, und falls er es je herausfand, hätten die Verantwortlichen bitter dafür zu bezahlen.
Zweitens, Medina war tatsächlich hinter ihm her, aber für eine dritte, eine unbekannte Partei. Vielleicht war sein Geheimnis ja doch nicht so wohlgehütet, wie er gedacht hatte. Die Verschwörungstheorie, also. Na ja. Nicht gerade die naheliegendste Möglichkeit, aber wie hatte jemand so schön gesagt, selbst Paranoide haben echte Feinde.
Und drittens, Medina befand sich aus einem völlig anderen Grund hier. Es war purer Zufall, daß Dexter ihn gesehen und erkannt hatte.
O ja, und Schweine können fliegen.
Dexter erreichte die St. Ann Street und bog in sie ein, wobei er es vermied, einen Blick ins Schaufenster des Voodoo Shops zu werfen, an dem er vorbeikam. Ihm war schon unheimlich genug, auch ohne das Mistzeug. Vielleicht hätte er ja besser auf der Bourbon bleiben sollen; die St. Ann war regelrecht ausgestorben.
Medina trat lautlos aus dem Schatten und blieb in geringer Entfernung vor ihm stehen, in der Hand eine 22er mit Schalldämpfer, den Arm ausgestreckt.
Dexter blieb wie vom Donner gerührt stehen und blickte in die stillen blauen Augen seines Gegenübers. Seine eigene Pistole steckte im Rücken seines Hosenbunds, und er wußte, daß er sie nie rechtzeitig würde erreichen können. Der Tod starrte ihm ins Gesicht, und seltsamerweise mußte er in diesem Moment an Jeanette denken. Er sah ihr liebes Gesicht vor sich, erinnerte sich deutlich daran, wie fest sie ihn bei seinem letzten Besuch gehalten hatte, und mit staunender Ehrfurcht erkannte er, wie sehr sie ihn lieben mußte.
Und mit einem Blick hinter Medina erkannte er schlagartig, wie sie es angestellt hatten. Es gab ein viertes Szenario, eins, das ihm entgangen war.
»Paß a-«, begann er, aber Medinas Finger krümmte sich gleichzeitig sanft um den Abzugshebel, und die Kugel durchschlug sauber und präzise seine Stirn und machte jeglichen Gedanken und Gefühlen ein Ende.
Die letzten Worte aus Dexter Whitlaws Mund ließen Rick Medina dann blitzschnell herumfahren, wobei er sich auf ein Knie niederließ. Er war stark und geschmeidig wie ein Tänzer, aber er war mittlerweile auch schon sechsundfünfzig Jahre alt und seine Reflexe ein klein wenig langsamer. Er konnte noch einen Schuß
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