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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Kuipers
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einem riesigen Bart. Selbst er sagt, er sähe aus wie ein Bär, was wohl so was wie der Familienwitz ist. Er erzählte massenweise Geschichten über Kanada und alle mussten lachen.
    Ihre Brüder waren auch alle da, inklusive Joshua, ihrem ältesten Bruder (inzwischen weiß ich, wer welcher ist), und ich SCHWÖRE, er hat mich mehr als einmal angesehen und meinen Blick gehalten, bis ich rot wurde. Er war süß und lustig und sieht viel besser aus als Dan. (Obwohl Dan so schöne Augen hat. Aber ich muss Dan endlich abhaken.) Joshua hat aufgepasst, dass ich genug Spaghetti Bolognese bekam, die Mum leider nie mehr macht, weil wir nur noch Essen von unterwegs mitbringen oder ins Haus liefern lassen oder Reste essen. Ich vermisse die Mahlzeiten mit richtigem Braten und auch Mums Anfälle von gesunder Ernährung. Es ist, als ob sie es nicht einmal ertragen kann, dass wir beide uns zusammen zum Essen an den Tisch setzen. Nicht, dass ich je mit ihr zusammensitzen und essen möchte. Jedenfalls waren die Spaghetti Bolognese das Beste, was ich seit langem gegessen habe. Rosa-Leighs Dad hat sie gemacht.
    Nach dem Essen hat Rosa-Leighs Dad uns irgendwo in Camden abgesetzt. Rosa-Leigh sagte: »Da ist es«, und deutete auf eine ramponierte rote Tür. Darüber hing eine Lampe, die aussah, als stamme sie aus den vierziger Jahren, aber echt cool. Wir stießen die Tür auf, und es war, als ob man zu jemandem nach Hause käme, überall standen Sofas und es gab schöne Lampen mit buntem Glas, was man Tiffany nennt, wie Rosa-Leigh mir erklärte. Ich dachte, Tiffany sei der Schmuckladen in New York, aber ich sprach es nicht aus. Ich setzte mich auf ein Sofa und sah mir all die Leute mit den merkwürdigen Frisuren hier an – jede Menge Dreadlocks und Zöpfe –, die bunte Pullis und Hemden trugen. Alles Sachen, die Emily bestimmt toll gefunden hätte. Nur, dass nicht sie da war, sondern ich.
    Das Sofa hatte einen geblümten Bezug und roch etwas verstaubt und nach Rauch. Rosa-Leigh lächelte und sagte hallo zu einem Pärchen, das an einem Nebentisch saß. Dann ging sie uns Drinks holen. Man fragte sie nicht einmal nach dem Ausweis, was mir bestimmt passiert wäre. Plötzlich fühlte ich mich so, wie ich mich schon immer fühlen wollte: als ob ich in meinem Leben zu Hause war.
    Rosa-Leigh brachte uns Gin und Tonic. Das ist die Art von Drink, die meine Mutter auch nehmen würde. Rosa-Leigh sagte, sie hätte immer gedacht, jeder in England trinke Gin Tonic, und ich sagte ihr, dass das nicht so sei.
    »Was ist das für eine Kneipe?«, fragte ich sie. Sie legte einen Finger über die Lippen und hob eine Augenbraue, als wolle sie sagen: Wart’s mal ab!
    Dann wurde das Licht gedimmt, und in einer Ecke sah ich im Scheinwerferlicht ein Mikrophon. Ein wahnsinnig gut aussehender dunkelhäutiger Typ ging zum Mikro. Ich konnte kaum aufhören, ihn anzusehen, nicht, weil ich irgendwas für ihn übriggehabt hätte, sondern weil er einfach so klassisch schön aussah, wie ein Gemälde. Dann begann er zu reden. Aber er redete nicht einfach so. Nein, er trug GEDICHTE vor. Er rezitierte ein Wahnsinnsgedicht über den Krieg und Bomben. Ich bekam eine Gänsehaut, fast als ob ich einen kalten Hauch im Nacken spürte. Es kam mir vor, als ob dieser Typ da vorn das Gedicht für mich aufsagte. Wobei er es gar nicht wie ein Gedicht aufsagte; er sprach, als sei es ECHT.
    Nachdem er fertig war, klatschte ich so heftig, dass meine Hände brannten. Dann trug eine ziemlich dicke Frau drei Gedichte über Sex und das Frausein vor. Sie war klasse. Danach kamen noch vier oder fünf Leute mit ganz verschiedenen Sachen. Ein Typ war nicht älter als ich, ich schwör’s. Er sah nach der Sorte aus, die im Klassenzimmer ganz vorne sitzt und durch dicke Brillengläser späht. Die Sorte, die in Gegenwart von Mädchen ziemlich verlegen ist. Allerdings trug er seine Gedichte absolut flüssig vor, ohne auch nur einmal ins Stocken zu kommen.
    Ich fragte Rosa-Leigh, woher sie von diesem Ort wusste. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Solche Spoken-Word-Events wie der hier gehören zu den Sachen, wegen denen es sich gelohnt hat, nach London zu kommen.«
    Ich habe noch nie von Spoken-Word-Events gehört. Ich fragte mich plötzlich, was Abigail wohl von all dem hielte und sah den Raum durch ihre Augen. Sie würde versuchen, auf sich aufmerksam zu machen, indem sie zu laut und zu viel redete, weil sie sich unwohl fühlte.
    In diesem Augenblick blieb mir die Luft weg, weil ich dachte, ich

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