Vor meinen Augen
weil es ja alles meine Schuld war. Es war mein blöder Schnürsenkel gewesen. Ich saß auf der anderen Seite des Bettes und Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich sagte: »Du hast keine Ahnung, wie es für mich war. Niemand hat auch nur irgendeine Ahnung, womit ich JEDEN Tag leben muss.« Dann schrie ich sie an: »Geh raus! Geh raus!« Ich sagte ihr immer und immer wieder, sie solle rausgehen, aber ich schrie es nicht mehr. Meine Stimme wurde leiser und abgehackter. Ich wiederholte die Worte und es machte mir selbst Angst. Sie sah mich traurig an, aber sie ging. Ich holte tief Luft. Angst kroch über mich hinweg wie ein Schatten, der einem Grab entsteigt. Mein Herz hämmerte, mein Atem kam abgehackt, ich weinte, ohne einen weiteren Laut. Ich legte mich ins Bett und blieb zitternd liegen. Ich dachte, ich müsste sterben.
Dienstag, 4. April
Heute Morgen tat ich nur so, als ob ich zur Schule gehen würde. Das habe ich noch nie vorher gemacht, aber ich fühlte mich zu zittrig und irgendwie komisch, um wirklich in die Schule zu gehen. Ich verließ das Haus, ohne mit Mum geredet zu haben. Ich wartete auf der anderen Straßenseite und wusste nicht, was ich tun sollte. Es war warm, und kleine gelbe Blumen schoben sich durch die Erde rings um die großen Bäume in unserer Straße. Ich konnte Blütenduft riechen und hörte Vögel zwitschern. Ich war völlig benommen vor Panik und wusste wirklich nicht, wie ich den Tag überstehen sollte. Zum Glück kam Mum nach einer Weile aus der Haustür heraus. Ich fragte mich, wo sie wohl hinwollte, aber als ich dann hineinging, fand ich eine Nachricht für den Fall, dass sie später nach Hause kommen sollte als ich. Auf dem Zettel stand, dass sie etwas zu Essen für die Woche und dann noch Klamotten einkaufen würde und hinterher noch rüber in die Kirche wollte.
Sobald ich im Haus war, schloss ich die Tür vor der Lebendigkeit des Frühlings. Ich dachte, hier drinnen wäre es dann richtig still, aber Häuser ohne Leute sind gar nicht still, eher ist es so, dass sie ächzen und atmen, als hätten sie eine eigene Persönlichkeit. Ich fragte mich, welche Persönlichkeit unser Haus wohl hat – wahrscheinlich ist es irgendwie melancholisch und einsam. Der Holzboden, den Mum selbst eingelassen hat, knarrte, als ich an der Kommode mit dem alten Telefon darauf (so alt, dass es noch eine Wählscheibe hat) vorbeikam. Ich sah mich beim Vorbeigehen im Spiegel und erschrak über mein blasses, kaputtes Aussehen. Ich tastete nach den großen dunklen Schatten unter meinen Augen. Die Hängepflanzen über der Tür zum Wohnzimmer mussten dringend gegossen werden, aber ich holte nicht die Gießkanne. Stattdessen stand ich da und sah mir all die Bücher im Wohnzimmer an und die Bilder an der Wand, die Mum vor Jahren gemalt hat. Ich versuchte, mich zu erinnern, wann sie das Malen aufgegeben hat. Mir fiel ein, dass sie Saxophon gespielt hatte, als ich klein war. Immer wenn sie übte, hatten Emily und ich sie geärgert und sie zum Spaß angebettelt, doch endlich aufzuhören. Und irgendwann hörte sie auf. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich sie das letzte Mal hab spielen hören. Wenn ich damals hätte ahnen können, dass sie wirklich aufhören würde, hätte ich sie gebeten weiterzuspielen.
Ich stieg die Treppe hoch. Vor Emilys Tür machte ich halt, stieß sie auf und sah all ihre Sachen an, die genau so dalagen wie immer. Ich fiel auf die Knie und aus meinem Mund kam ein Laut, der klang wie das Heulen eines verwundeten Tieres. Ich hielt meinen Bauch und krümmte mich nach vorne. Der Schmerz ging nicht weg. Ich konnte nicht aufhören zu weinen.
Mittwoch, 5. April
Ms Bloxam, wie üblich völlig verschwitzt und das wirre Haar ungebändigt ins runde Gesicht hängend, kam heute in der Pause zu mir, und fragte völlig UNVERMITTELT: »Wie kommst du denn mit der ganzen Sache zurecht?«
Sie sagte »der ganzen Sache«, als sei es irgendeine Sache , die man unters Bett schieben konnte. Komisches Wort Sache . Alle Worte sind komisch, wenn man sie zu oft benutzt. Komisch ist ein komisches Wort.
Dafür, dass Ms Bloxam normalerweise aussieht, als bekäme sie gleich einen Herzanfall, und dass sie richtige Glupschaugen hat, sah sie wirklich total mitfühlend aus, ich konnte es kaum glauben. Am liebsten hätte ich sofort angefangen zu heulen, und gleichzeitig wollte ich rausrennen und mich übergeben, aber ich stand einfach nur da und nickte.
Sie sagte: »Alles in Ordnung mit dir?« Sie hat richtig lange
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