Vor meinen Augen
ich sie an. »Du erträgst es nicht, dass etwas nicht dir gehört. Ich habe dieses Kleid geliebt, das wusstest du.«
»Du hast darin wie eine Presswurst ausgesehen.«
»Hab ich nicht«, schrie ich. »Du bist einfach nur alt und kannst ein solches Kleid nicht mehr anziehen.«
Sie versuchte wegzugehen, aber ich hatte sie gegen die Wand gedrängt.
Ich schrie: »Ich habe überhaupt nicht wie eine Presswurst darin ausgesehen! Ich habe total super darin ausgesehen, und das ist auch der Grund, warum du es zerschneiden musstest. Stimmt’s?«
»Ich weiß gar nicht, warum du so einen Stress machst. Als Rock sieht es viel besser aus. Du kannst ihn ja borgen, wenn du willst.«
In diesem Moment hasste ich sie. Ich wollte sie wieder schlagen, aber ich wusste, dass ich mich danach auch nicht besser fühlen würde. Am liebsten hätte ich ihr ins Gesicht gespuckt. Ich sagte: »Ich würde ihn nicht mal anrühren, wenn du mich dafür bezahlen würdest.« Dann wich ich zurück und begann zu weinen.
»Komm schon«, sagte sie. »Es ist doch nur ein Kleid. Ich besorg dir ein anderes.«
»Ich hasse dich.«
»Dann nimm doch den blöden Rock. Du kannst ihn haben.« Sie schlüpfte heraus und stand da in ihrem weißen Slip im Flur. Ich ging ins Wohnzimmer und drehte den Fernseher richtig laut. Mein Blut pulsierte in meinem Körper. Ich musste immer an ihr Gesicht denken, als ich sie geschlagen hatte, den roten Fleck auf ihrer Wange und wie sie da in ihrer Unterwäsche im Flur gestanden hatte und mir den Rock entgegenhielt. Ich blieb mit überkreuzten Armen auf dem Sofa sitzen und wartete darauf, dass die Wut nachließ.
Jetzt kann ich gar nicht glauben, dass ich mich darüber so aufgeregt hatte. Es kommt mir so dumm vor.
Montag, 3. April
Mum kam gerade in mein Zimmer. Sie setzte sich auf den Bettrand und erzählte mir, am Freitag in einer Woche käme jemand zu Besuch. Sie sagte, sie würde sich wirklich freuen, wenn ich da sein könnte. Ich merkte an ihrer Stimme, dass sie nervös, aber auch irgendwie erwartungsvoll war. Mir fiel ein, dass sie zu dieser Selbsthilfegruppe ging und wie sie in letzter Zeit ein paarmal mit mir hatte reden wollen. Und jetzt saß sie auf meinem Bettrand und lächelte. Was war mit ihr los? Ich lag da und legte die Arme über meine Augen.
Sie sagte: »Alles in Ordnung mit dir?«
»Seit wann interessiert dich das?«
»Das ist nicht fair, Sophie.«
»Was ist denn schon fair im Leben, Mum?«, fragte ich. Ich drängte die Tränen zurück, die in meinen Augen aufsteigen wollten.
Einen Moment lang dachte ich, sie würde ihre Hand auf meine Schulter legen und mich trösten, damit ich zu ihr sagen konnte: »Ich vermisse dich.«
Doch sie antwortete: »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Sophie. Ich gebe mir wirklich Mühe. Ich weiß, es reicht nicht. Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe.«
Auch wenn man meinen sollte, dass mich das nun getröstet hätte, war es nicht so. Es war, als ob ich plötzlich durchdrehen müsste. Als ob die richtige Zahlenkombination ins Schloss eingegeben worden sei und es bei mir Klick gemacht hätte. Abrupt setzte ich mich auf und schrie sie an, sie solle aus meinem Zimmer gehen. Ich erklärte ihr, dass ich den blöden Besuch nicht treffen wolle und ich es satt hätte, dass wir uns immer etwas vorspielten. Mums Gesicht fiel in sich zusammen. Der Glanz verschwand aus ihren Augen. Bevor er verschwand, hatte ich gar nicht bemerkt, dass er da gewesen war, denn es war so lange her, seit sie froh ausgesehen hat. Ich hatte sie nur wieder unglücklich gemacht. Trotzdem konnte ich nicht aufhören. Ich schrie: »Ich bin dir völlig egal!«
»Es tut mir leid, Sophie«, sagte sie. »Ich tu mein Bestes. Ich verspreche es. Ich gehe ja schon in die Selbsthilfegruppe, um mich wieder in den Griff zu kriegen. Ich weiß, wie schwer das …«
»Du hast nie Zeit für mich. Du siehst mich ja nicht einmal. Und jetzt kommt jemand zu Besuch und alles soll BESTENS sein?« Ich fand mich selbst furchtbar. Und dann sah ich ihren Blick und fragte: »Dieser Jemand ist ein Mann, stimmt’s?« Noch indem ich es aussprach, hoffte ich, sie würde mir sagen, dass ich mich täuschte.
Sie sah nach unten und dann zu mir zurück, Tränen in den Augen. Sie sagte: »Bitte, Sophie. Er ist einfach nur ein Freund. Und ich habe es versucht, wirklich, aber ich weiß einfach nicht, wie ich das Ganze bewältigen soll.«
Was sollte ich denn darauf antworten? Ich wusste ja auch nicht, wie das zu bewältigen war. Vor allem,
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