Vor meinen Augen
Tränen ausgebrochen oder hätte Abi weggezerrt oder irgendetwas gesagt, aber ich tat gar nichts. Rosa-Leigh hatte die Hand vor den Mund gepresst, und man sah den Horror in ihren Augen. Sie kapierte sofort, dass dieser Kuss für mich wie ein Messerstich in den Rücken war, und zog mich schnell ins Wohnzimmer.
Ich sagte: »Ich kann nicht glauben, was Abi da gerade getan hat.«
Sie sagte: »Ich kann nicht glauben, was Dan getan hat. Lass uns hier verschwinden.«
Wir waren im Begriff zu gehen, aber Zara rief mich zu sich und sagte, sie fände mein Top hinreißend – sie wollte wohl nett sein. Dann kam Abi grinsend rein und zog Zara zur Seite. Inzwischen waren Unmengen Leute im Haus.
Rosa-Leigh kam zu mir und flüsterte in mein Ohr: »Ich habe eine bessere Idee. Echt, lass uns abhauen.«
Draußen in der kühlen Nacht war der Himmel klar. Wir konnten unsere Atemwölkchen in dem orangefarbenen Schein der Straßenlaternen sehen. Ich hörte das Rauschen des Verkehrs und das weit entfernte Heulen einer Polizeisirene.
»Was für eine Idee? Wohin willst du?«, fragte ich.
»Wir können die U-Bahn nach Camden nehmen. Ich kenne da ein Lokal.«
Mein Herz blieb stehen. Ich sagte nichts.
»Was?«, fragte sie.
»Ich kann nicht mit der Bahn fahren, Rosa-Leigh.«
Sie blickte mich an, und obwohl es dunkel war, sah ich ein Blitzen in ihren Augen. Sie wusste es. Jemand musste es ihr erzählt haben. Sie sagte: »Klar kannst du«, aber schon irgendwie nicht mehr so überzeugt.
Ich holte tief Luft und stieß hervor: »Ich kann nicht.«
Sie wartete.
»Ich kann einfach nicht.«
Rosa-Leigh schlug vor: »Dann lass uns stattdessen was anderes machen.«
»Ich will nach Hause.« Ich klang wie ein jammerndes Kind, aber ich wusste, wenn ich auch nur noch eine Minute länger auf der Straße herumstand, würde ich mich übergeben müssen. Plötzlich schlug mein Herz wie verrückt und die Kälte fror die Ränder meines Gehirns ein. Ich begann zu hyperventilieren.
Rosa-Leigh sagte: »Hol tief Luft. Alles ist in Ordnung. Atme einfach nur gleichmäßig.« Ich merkte, dass sie nervös war, ihre Stimme war höher als sonst und auch angespannt. Ich setzte mich auf den Randstein und Tränen liefen über mein Gesicht.
Ich wollte sagen: »Ich sterbe«, aber es kam nur als ein Flüstern heraus.
Sie setzte sich neben mich und zog mich in ihre Arme. Und dann wartete sie, bis es mir besserging. Wir nahmen ein Taxi zu ihr nach Hause, wo ich übernachtete.
Sonntag, 26. März
Als ich heute Vormittag von Rosa-Leigh nach Hause kam, kletterte ich aufs Dach. Es war sonnig und schön warm, also machte ich es mir mit einer Tasse Tee gemütlich, und Fluffy legte sich gnädig neben mich.
Ich erinnerte mich, wie Mum, Emily und ich einmal zusammen in Soho einkaufen waren. Ich war wohl so acht oder neun. Mum ging uns wie meistens beim Einkaufen voraus. Emily und ich liefen hinterher und ärgerten uns, dass wir ihr immer folgen mussten. Die Straße war hübsch, alte Gebäude standen zusammengedrängt wie tuschelnde Frauen und kleine Boutiquen spähten zwischendurch heraus. Ich zeigte Emily einen Laden. Im Fenster stand ein wunderbarer goldener Globus. Wir sahen ihn uns einen Moment lang an und gingen dann, ohne Mum Bescheid zu geben, hinein.
Im hinteren Teil des Ladens saß eine alte Frau auf einem Stuhl, die Beine verschränkt und die Hände im Schoß gefaltet. Emily sagte etwas zu ihr, aber die Frau antwortete nicht. Wir traten noch einen Schritt näher, und ich hatte ganz stark das Gefühl, das irgendetwas nicht stimmte. Der Kopf der Frau war gesenkt und sie saß ganz reglos.
Ich sagte Emilys Namen, doch sie hörte mich nicht oder konnte nicht glauben, was sie sah, denn sie ging geradewegs zu der Frau und legte ihr die Hand auf die Schulter. Dann zog sie die Hand ganz schnell wieder weg.
Ich sah die alte Frau an, die friedlich dort saß.
Emily flüsterte: »Sie ist tot.«
Und dann hob die alte Frau auf einmal mit einem Ruck den Kopf und riss die Augen auf. Emily und ich schrien auf. Wir flohen aus dem Laden und rannten die Straße entlang. Bald waren wir in irgendwelchen engen Straßen, wo wir uns nicht auskannten. Ich begann zu weinen. Ich sah mich um und Emily war nicht da. Ich schrie: »Emily! Emily!«
Emily rannte zu mir und drückte meine Hand. »Hey, hey! Ich bin ja da. Hab keine Angst, ich lass dich nicht allein. Ich gehe nicht weg. Ich war gleich hinter dir.«
»Ich wusste nicht, wo du warst.« Ich schluchzte.
»Alles in
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