Der Lilienpakt
Prolog
März 1626
Jede Nacht birgt ein Geheimnis, hieß es. Für diese Nacht traf das Sprichwort zu. Der Reiter in der blauen Tunika, der seinen Rappen durch den Wald hetzte, trug das größte Geheimnis des Landes bei sich. Ein Geheimnis, das Frankreich ins Chaos stürzen konnte, wenn es offenbar wurde.
Die Last dieser Verantwortung trieb den Mann im Sattel zur Eile an. Seine Kleider klebten ihm am Leib, und die eigentlich milde Märzluft erschien ihm eisig. Keuchend blickte er sich immer wieder um. Doch er sah nur nebelverhangene Finsternis zwischen den Baumstämmen. Als neben ihm ein Raubvogel kreischend aufflatterte, schrak er zusammen. Der Hufschlag unter ihm wurde kurz vom Pochen seines Herzens übertönt.
Sie dürfen mich nicht fassen.
Es war bereits tiefe Nacht gewesen, als er aufgebrochen war. Wann würde die Dämmerung anbrechen? Wie viele Meilen hatte er schon hinter sich gebracht? Er wusste es nicht. Alles, was er in diesem Augenblick wollte, war ankommen. Ankommen in den schützenden Mauern des Schlosses.
Plötzlich ertönte ein Knacken neben ihm. Hastig blickte der Reiter zur Seite. Das Aufleuchten in der Finsternis stammte allerdings von den Augen eines Rehs, die vom Mondlicht getroffen worden waren.
Nach einer schier endlosen Zeitspanne erreichte er den Waldrand. Wieder warf er einen Blick zurück. Von Verfolgern keine Spur.
Doch noch war er nicht am Ziel. Auf freies Feld hinauszureiten bedeutete nur, dass er wesentlich leichter von einem Geschoss getroffen werden konnte. Unwillkürlich spannte er seinen Körper an und trieb das Pferd noch stärker an, obwohl er dessen Erschöpfung deutlich spürte. Ein Esel wäre längst stehen geblieben, nur Pferde ließen sich zu Tode schinden.
Wir alle sind nur Pferde, gespannt vor den Karren des Königreichs, ging es dem Reiter durch den Kopf. Dann tauchte plötzlich ein Licht vor ihm auf.
Das Schloss!
Es war vereinbart worden, im obersten Fenster des Bergfrieds ein Feuer zur Orientierung brennen zu lassen.
Bevor er erleichtert aufatmen konnte, streifte ihn ein Schatten. Schon wollte er nach seiner Pistole greifen, doch da vernahm er den Ruf einer Eule. Kurz tauchte ihr Umriss vor dem Mond auf, dann verschmolz sie wieder mit der Dunkelheit.
Der Mann schenkte ihr keine weitere Beachtung. Nachdem er querfeldein über grobe Erdschollen hinweggejagt war, erreichte er endlich das Schlosstor.
Dieses öffnete sich wie von Geisterhand. Die Flügel schwangen knarrend auf und gaben den Weg in den Hof frei. Laut klapperten die Hufe über das Pflaster. Doch niemand erschien, um nachzusehen, wer der Reiter war. Auch das war der Befehl des Schlossherrn gewesen.
Daheim! Der Reiter seufzte erleichtert auf, als er das Pferd zum Stehen brachte. Ich habe es geschafft.
Lächelnd ließ er sich aus dem Sattel gleiten, dann überprüfte er die Last an seinem Herzen. Nichts hatte sich verändert. Das Kind schlief ruhig, als hätte es diesen Ritt und all die Angst um sein Leben nicht gegeben.
Nachdem er vorsichtig über das haarlose Köpfchen gestrichen hatte, schlug er seine Tunika mit dem weißen Kreuz wieder um den zarten Körper und stapfte die Schlosstreppe hinauf.
Erstes Buch
Das Geheimnis
Frühjahr 1643
1
Als ich klein war, haderte ich oft damit, ein Mädchen zu sein.
Ich wollte wie meine Brüder durch die Wälder streifen, anstatt mich beim Lautespielen und Sticken zu langweilen. Ich wollte bei der Jagd mitreiten, anstatt im Salon meiner Mutter unter der strengen Aufsicht von Madame Poussier Tanz und gutes Benehmen zu erlernen. Ich wollte frei sein wie die Männer meiner Familie.
Zu dieser Freiheit gehörte es für mich, fechten zu lernen.
Solange ich denken konnte, hatten mich Degen und Rapiere fasziniert. Seit ich groß genug war, um Türklinken herunterzudrücken, schlich ich regelmäßig in den Fechtsaal unseres Schlosses. Dort waren die prächtigsten Waffen aufgereiht. Ehrfürchtig ließ ich meine Hand über die kostbar verzierten Griffe gleiten und stellte mir vor, mit der Waffe in der Hand elegant über den blanken Marmorboden zu tänzeln, während mein Bild von den hohen, goldgerahmten Spiegeln zurückgeworfen wurde.
Meist endete meine Träumerei damit, dass ich von meiner Gouvernante aus dem Fechtsaal gezerrt und gerügt wurde. Umherstreifen, Jagen und Fechten waren keine Leidenschaften für ein Mädchen.
Doch ich ließ mich nicht von meinem Traum abbringen, eines Tages eine berühmte Fechterin zu werden. Immerhin war ich eine d’Autreville,
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