Vorkosigan 12 Viren des Vergessens
Weidegatter.
Sein Pferd, das in den ersten paar Wochen seines Lebens als Fohlen von Miles’ Großvater den Namen Ninny bekommen hatte, kam auf seinen Ruf herbei, um ihn zu begrüßen, und wieherte, und Miles belohnte es mit Pfefferminzplätzchen. Er tätschelte die breite, samtige Nase des Rotschimmels. Das Pferd, das inzwischen … dreiundzwanzig Jahre alt war, hatte mehr Grau unter seinen roten Haaren und schnaubte von seinem kurzen Galopp über die Weide. Sollte er … es wagen zu reiten, trotz der Gefahr eines Anfalls? Vielleicht nicht gerade auf solchen tagelangen Campingausflügen in die Berge, wie er sie am liebsten unternommen hatte. Wenn er Martin dazu ausbildete, ihn aufzuspüren, dann konnte er vielleicht einige Runden über die Weiden riskieren. Falls er herunterfiel, würde er sich wohl kaum einen seiner synthetischen Knochen brechen, und er konnte sich darauf verlassen, daß Ninny nicht auf ihn trat.
Schwimmen, das andere Hauptvergnügen des Lebens in Vorkosigan Surleau, war völlig ausgeschlossen. Segeln war unsicher; er würde ständig eine Schwimmweste tragen und Martin mitnehmen müssen. Konnte Martin überhaupt schwimmen, geschweige denn den Lebensretter eines Mannes spielen, der über Bord gegangen war, und gleichzeitig das Boot nicht von sich forttreiben lassen? Das schien ziemlich viel verlangt. Tja … das Wasser des Sees wurde sowieso mit Fortschreiten des Herbstes immer kühler.
Es war kein Zufall, daß in der folgenden Woche Miles’ dreißigster Geburtstag war, während er sich in stiller Langeweile am See aufhielt. Hier war der beste Ort, um das Ereignis zu ignorieren, anders als in der Hauptstadt, wo er wahrscheinlich von Bekannten und Verwandten heimgesucht worden wäre, oder zumindest von Ivan, der ihn mit dem Thema Älterwerden aufgezogen oder – noch schlimmer – mit einer Party behelligt hätte. Allerdings hätte die Einsicht, daß er in ein paar Monaten selber an der Reihe wäre, Ivan zweifellos ein wenig gebändigt. Auf jeden Fall würde Miles in Wirklichkeit nur einen Tag altern, genau wie an jedem anderen Tag. Okay?
Der fragliche Tag dämmerte neblig und feucht aus dem melancholischen Regen des Vortages herauf, der Miles’ Stimmung so entsprochen hatte, doch an dem hohen blassen Blau direkt über ihnen war zu ersehen, daß das Wetter warm und dunstig und vollkommen werden würde. Und als über die Komkonsole des Hauses die erste Gratulation – von der selbstzufrieden amüsierten Lady Alys – eintraf, war ebenfalls ersichtlich, daß man ihm nicht gestatten würde, den Geburtstag gänzlich zu ignorieren. Wie lange dauerte es noch, bis Ivan sich meldete? Wenn Miles nicht einen Ausweg fand, um sich zu verstecken, dann riskierte er es, den ganzen Tag an das verdammte Gerät gekettet zu sein.
Er stibitzte aus der Küche ein Brötchen vom Frühstücksvorrat und ging auf dem Weg an der Hügelflanke hinaus zum Garten, der gleichzeitig als Friedhof diente. Einst war dies die Ruhestätte der Wächter aus der Kaserne gewesen, nach der Zerstörung von Vorkosigan Vashnoi hatten die Vorkosigans ihn als ihre Familiengrabstätte übernommen. Miles setzte sich für eine Weile kameradschaftlich neben das Grab von Sergeant Bothari, knabberte an dem Brötchen und beobachtete, wie die aufgehende Sonne rot durch die Morgennebel über Vorkosigan Surleau brannte.
Dann wanderte er zur Grabstelle des alten General Piotr hin über und schaute viele Minuten darauf nieder. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er vor diesem spöttisch stummen Stein auf den Boden gestampft und geschrien, geflüstert und gebettelt. Aber der alte Mann und er schienen einander nichts mehr zu sagen zu haben. Warum nicht?
Ich spreche mit dem falschen Grab, das ist das Problem, sagte sich Miles plötzlich. Er wandte sich ab und ging zum Haus zurück, um Martin zu wecken, der bis Mittag schlafen würde, wenn man ihn ließ. Miles kannte einen Ort, wohin er gehen und die Komkonsole ihn nicht verfolgen konnte. Und er hatte das verzweifelte Bedürfnis, dort mit einer gewissen kleinen Dame zu reden.
»Wohin fliegen wir denn, Mylord?« fragte Martin, als er sich auf dem Pilotensitz des Leichtfliegers niederließ und die Finger streckte.
»Wir fliegen zu einer kleinen Gebirgsgemeinde namens Silvy-Tal.« Miles beugte sich zu ihm hinüber und gab Anweisungen für das Vid-Landkarten- und Navigations-Programm ein, das ihnen dann ein dreidimensionales Gitternetz projizierte. »Ich möchte, daß Sie an einem ganz bestimmten Ort
Weitere Kostenlose Bücher