Vorkosigan 12 Viren des Vergessens
spielte?
Raina war eine Gefangene, die Naismith niemals retten würde, denn sie lag zehn Jahre schon dort unter der Erde.
Es gab eine wahrscheinlich apokryphe Geschichte über Miles’ Vorfahren, den Grafen Selig Vorkosigan, der von den Leuten seines Distriktes Steuern einsammelte – oder eher, einzusammeln versuchte –, und seine Untertanen waren nicht mehr von der Aussicht angetan als ihre Nachkommen heutzutage. Eine verarmte Witwe, die die Schulden ihres verstorbenen Ehemannes am Hals hatte, bot das einzige an, was sie besaß: das Trommelspiel ihres Sohnes, den Sohn eingeschlossen. Selig, so erzählte man, nahm das Trommelspiel an, doch den Jungen gab er zurück. Eigennützige Vor-Propaganda, ohne Zweifel. Naismith war Miles’ bestes Opfer gewesen, sein Ein und Alles, das er in Händen hielt, als er auf der Suche sein Innerstes nach außen gekehrt hatte. Barrayars galaktische Interessen schienen in diesem Morgenlicht in den Bergen sehr weit weg zu sein, doch diesen Interessen zu dienen war seine Rolle gewesen. Naismith war der Trommelklang gewesen, den er gewirbelt hatte, aber Vorkosigan war es, der die Trommel geschlagen hatte.
So wußte er genau, wie er Naismith verloren hatte, Fehltritt um Fehltritt. Er konnte jedes Glied in dieser katastrophalen Ereigniskette berühren und benennen. Wo, zum Teufel, hatte er Vorkosigan verloren?
Wenn sie landeten, würde er Martin sagen, er solle einen Spaziergang unternehmen oder noch etwas mit dem Leichtflieger herumfliegen. Für dieses Gespräch mit den Toten wollte er keinen Zeugen haben. Er hatte Gregor enttäuscht, doch ihm ins Auge gesehen, er hatte seine Eltern enttäuscht und würde ihnen bald ins Auge sehen müssen. Doch vor Raina zu treten … das würde schmerzen wie die Explosion einer Nadelgranate.
O Raina. Kleine. Dame. Bitte, was soll ich jetzt tun? Er kauerte sich von Martin weg, war ganz schweigsam und lehnte die Stirne gegen das Verdeck. Er hatte die Augen geschlossen, sein Kopf schmerzte.
Martins Stimme brach in seine zunehmend quälende Träumerei. »Mylord? Was soll ich tun? In dem Tal, das Sie angegeben haben, kann ich nicht landen. Da ist alles Wasser.« »Was?« Miles setzte sich auf, öffnete die Augen und schaute überrascht hinaus.
»Dort scheint ein See zu sein«, sagte Martin.
In der Tat. Auf der schmalen Bergschulter, wo sich die beiden herabfließenden Wasserläufe getroffen hatten, saß jetzt ein kleiner Damm für ein Wasserkraftwerk. Dahinter spiegelte eine gewundene Wasserfläche das dunstige Morgenblau und füllte die steilen Täler. Miles schaute noch einmal auf die Vid-Landkarte, um sicherzugehen, und las dann das Datum auf der Karte. »Diese Karte ist nur zwei Jahre alt. Aber dieser See ist, verdammt noch mal, nicht drauf. Aber … es muß schon hier sein, ganz gewiß.« »Wollen Sie immer noch landen?« »Ja … hm… versuchen Sie dort auf dem Ostufer niederzukommen, so nahe am ursprünglichen Ziel, wie Sie können.« Es war keine leichte Aufgabe, aber Martin fand schließlich eine Stelle und brachte den Leichtflieger langsam zwischen den Bäumen zu Boden. Dann ließ er das Verdeck hochgehen; Miles kletterte hinaus, blieb auf dem steilen Ufer stehen und blickte auf das klare braune Wasser hinab. Er konnte nur wenige Meter tief sehen. Einige weiße Baumstümpfe staken heraus wie Knochen.
Neugierig folgte ihm Martin und stellte sich neben ihn, als wollte er ihm schauen helfen.
»Also … ist der Friedhof noch dort unten, oder haben die Leute vom Silvy-Tal ihre Gräber verlegt? Und wenn, wohin?«, murmelte Miles.
Martin zuckte mit den Achseln. Auch der glatte, friedliche Wasserspiegel gab keine Antwort.
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KAPITEL 11
Nachdem Martin den Leichtflieger wieder aus den Bäumen heraus in die Luft manövriert hatte, entdeckte Miles die Siedlung, die er suchte; sie war etwa einen Kilometer entfernt. Er ließ Martin auf dem Hof vor einer Hütte landen, die aus ausgewittertem silbrigem Holz gebaut war. Die Hütte, deren vertraute lange Veranda einen schönen Ausblick auf das Tal und den neuen See bot, war scheinbar unverändert geblieben; allerdings gab es unten am Hang ein paar neue Nebengebäude.
Ein Mann kam auf die Veranda heraus, um zu sehen, was da auf seinem Hof landete. Es war nicht der einarmige Sprecher Karal mit seinem schütteren Haar, sondern ein völlig Fremder, ein großer Kerl mit einem sauber gestutzten schwarzen Bart. Doch er lehnte sich interessiert an das Verandageländer aus entrindeten Baumschößlingen, als
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