Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
Vom Netzwerk:
so abzuspringen, dass man über den kleineren kam und dahinter im Feldgraben landete. Eine der Weiherbirken hatte einen Ast, von dem der Großvater nur noch einen dicken Stumpf übrig gelassen hatte. Bis dorthin zu klettern war die eine, läppische Mutprobe, denn wenn man einmal wusste, wie es ging, ging es immer. Vom Ast auf den Boden springen war eine größere Sache. An manchen Tagen ließ ich mich wie nichts aus dem Sitz hinunterfallen, wenn die Lene-Mama oder der Großvater gerade aus dem Haus traten und denken mussten, ich wäre gestürzt, es war zu komisch. Manchmal war aber nicht genug Mut da, dann hängte ich mich nur mit beiden Händen an den gekappten Ast, was die Fallhöhe um einen gestreckten Meter zwanzig verkürzte und den Sprung so einfach machte, dass man danach gleich losrennen konnte. An besonderen Tagen machte ich alle Mutproben hintereinander, es war ein Zehnkampf, nach dem mir die Knochen wehtaten, ich aber die herrliche Gewissheit hatte, für alle denkbaren Herausforderungen gewappnet zu sein.
     
    Wenn der Großvater aus seinem Zimmer kam, zog er erst seine blaue Arbeitsjacke an, dann gab es einen Pfiff, den ich auch an den Trichtergruben auf dem Hügel hören konnte. Noch in der Sekunde, in welcher der Ton in den Hügeln verhallte, war ich in der Bewegung zurück zum Haus, egal, womit ich gerade beschäftigt gewesen war. Sein Pfeifen war jeden Mittag das Ende meines ziellosen Schwärmens. Dann spielten wir, aber es war kein Spielen im eigentlichen Sinn. Es war der Großvater von März bis November auf beiden Knien im Garten, einen alten Sack als Unterlage und mit beiden Händen in kurzen Bewegungen das Unkraut zupfend, dazwischen immer aufhäufelnd, die fein gekrümelte Erde an das Selleriegrün und die gelben Rüben. Ich daneben, als wacher Assistent und Geräteträger. Mit der Sorgfalt des Ingenieurs legte er seine Beete an und hatte dabei immer auch einen Blick auf meine Hände und ob sie genau genug die winzigen Grashalme und den Löwenzahn zogen. Das alles waren dennoch Spiele, es gab das Nur-mit-links-Spiel und das Schweigende-Gärtner-Spiel oder das, bei dem wir bei jedem gerupften Löwenzahn laut »Patscherkofel!« rufen mussten, weil es unser geheimes Lieblingswort war. Der Großvater vergrub auch kleine Schätze für mich, auf die ich beim Jäten stieß. Ein Perlmuttknopf unter einem Löwenzahn, den er so geschickt darunter verborgen hatte, dass ich nicht wusste, ob er schon immer da gewesen war. Wir stutzten die Himbeeren und die wilde Pfefferminze, die ab Mai in alle Beete kroch, vereinzelten Mangold und Spinat, steckten Zwiebeln und betteten die Gurken auf Stroh. Jeder Ortswechsel bedeutete, dass ich in die Schubkarre steigen durfte und chauffiert wurde, hinüber zu den Himbeeren am Pfänderhof, zum Brunnen oder in die Scheune, wenn er neue Stecker für die Hofstange vorbereitete. Der Garten war der Großvater und der Großvater war der Garten. Alles, was wir dort brauchten, versteckte sich in seiner blauen Jacke, es war nicht viel. Ein Messer, eine endlose Spindel gedrehter Schnur, ein Holzstäbchen, in das er Kerben geschnitzt hatte, eine für fünf Zentimeter und eine für zehn, das ganze Stäbchen waren noch mal zwei Kerben, und das war der Abstand, in dem der Mangold zu vereinzeln war. Aus seinen Taschen rieselte bei jedem Schritt das Steinmehl, der einzige Dünger, den wir hier benutzten.
    An diesem Nachmittag war der Garten noch kahl, nur winzige, krause Blättchen zogen sich schon in langen Reihen, und wir beschränkten uns darauf, die Beete abzustecken und die Wege dazwischen mit Brettern auszulegen, die am Ende des Sommers wie eingewachsen im Boden liegen würden. Das war vielleicht meine erste große Erkenntnis überhaupt: Bretter, die man am Anfang des Jahres glatt und hell zwischen die Reihen legt, haben am Ende des Jahres keine scharfen Kanten mehr, sondern liegen nur noch weich und fest in ihrer getretenen Form, vom Regen gequollen und von der Sonne wieder getrocknet, so oft.
    Der Großvater hatte auch als Einziger ein Auge auf meine Garderobe, die ich mir seit jeher selbst aussuchte, mein Vater wäre an dieser Aufgabe in aller Eile verzweifelt. Er selbst trug seit seiner Zeit in Cambridge nichts anderes als eine gelbe Kordhose und einen weinroten Pullover, der gelegentlich, wenn die Lene-Mama kam, auch ein grüner Pullover wurde. Für mich gab es in meinem Zimmer einen Schrank, in dem lag, was ich besaß, und fast all diese Sachen waren schon lange vor mir in

Weitere Kostenlose Bücher