Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
dichte Schicht gebildet, nur wo ich den Haken einwarf, kam ein kleines Loch in diesen Himmel.
Es dauerte gar nicht lange, aber alle Uhren waren auch schon vor langem stehen geblieben. Ich merkte das Rucken in der Schnur, dann sah ich sie seitlich wandern, Schlaufe um Schlaufe verschwand von der Wasseroberfläche. Als ich anzog, spürte ich den Fisch, er zappelte nicht, wie ich es erwartet hatte, sondern zog nur schwer in die andere Richtung, hinüber zu den Binsen. Aber die Rute ließ ihn nicht, die alte Rolle gab ihm keine Schnur, und so drehte er bald wieder und schwamm auf die andere Seite, die dünne Leine zog ein scharfes Muster durch die Oberfläche. Ich konnte Schnur aufnehmen, Schlag um Schlag kam zurück auf die Rolle, und dann wälzte sich die Schleie zum ersten Mal an der Oberfläche, ein breiter, goldener Rücken. Bald ließ sie sich bis ans Ufer führen und mit einem schnellen Griff hinter den Brustflossen packen, immer noch kein Gezappel. Schon lag der Weiher wieder ruhig. Es war eine enorme Schleie, auch wenn ich noch keine andere gesehen hatte. Sie sah mich aus sehr kleinen, roten Augen an, aber ohne Furcht. Die Kiemendeckel klappten ein wenig auf und zu. Ich löste den Haken aus ihrem Maul, sie sollte frei liegen und in Ruhe betrachten können, was sie so gut kannte. Sie schlug nicht, versuchte nicht ins Wasser zurückzukommen, der uralte Fisch lag einfach neben mir im Gras. Einige Minuten vielleicht, dann hörten die Kiemendeckel auf, sich zu heben, das gelbe Maul öffnete sich noch einmal weit, die Schwanzflosse rührte ein wenig, und dann war die unsichtbare Schleie befreit. Bald würde der Glanz auf ihren Schuppen trocknen, bald würde der morsche Fuß der Hofstange das Gewicht nicht mehr halten und der Mangold am höchsten stehen. Bald.
Die Tür zum Arbeitsstall war offen, die Bücher warteten ruhig, all die Bücher. Ich wollte nur das Manuskript holen. Das Manuskript meines Vaters, die Kratzdecke von Lada, vom Großvater eine Pfeife und von Pildau ein wenig Zucker, das wäre mein Paket für die Reise nach Berlin, wo ich Lada wiederfinden würde, und wahrscheinlich später auch alles andere von mir. Der Stapel mit dem Papier lag auf dem Schreibtisch, ein Blatt war in der Schreibmaschine eingespannt. Es war immer noch das Deckblatt, auf dem »Das Korn« stand, die anderen Seiten waren leer, er hatte in der ganzen Zeit nichts geschrieben, nur gelesen und seine Bücher an uns verteilt. Wie ruhig alles lag. Ich setzte mich, spannte ein neues Blatt ein und schrieb in Großbuchstaben »Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau«. Der Anfang war einfach, denn eigentlich gab es da nur die zwei Regeln meines Vaters.
Über Max Scharnigg
Foto: Julian Baumann
Max Scharnigg wurde 1980 in München geboren und arbeitet als Journalist unter anderem für die
Süddeutsche Zeitung
,
Architectural Digest
und
Nido
. Er veröffentlichte die Kolumnensammlungen
Das habe ich jetzt akustisch nicht verstanden
und
Feldversuch
. 2010 erschien sein Romandebüt
Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe
, das mit dem Münchner Literaturstipendium gefördert und mit dem Bayerischen Kunstförderpreis sowie dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde.
Impressum
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