Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Pildau gewesen, der ganze Schrank war aus der Zeit gefallen und wunderlich. Es gab darin eine richtige Kostümkiste mit Pelzstreifen, Spitzenborten und Federketten, die ich für echt indianisch hielt. Daneben gab es Hosen und steife Hemden und ein paar Wollpullover, die mir allesamt zu klein oder zu groß waren, manchmal sogar beides zugleich. Viele Sachen waren auch nicht mehr vollständig, es gab aufgetrennte Ärmel und ungestopfte Löcher. Aber das kümmerte mich alles nicht, ich kannte jedes der Teile so gut, wie ich alles hier kannte, hatte sie alle geschmeckt, nass und trocken getragen, zwischen den Fingerspitzen gerieben, gerochen und mir die Augen damit zugehalten. Schlimm gefroren hatte ich auch schon in allen, und dabei lernt man seine Garderobe bekanntlich am besten kennen. Zur Abrundung gab es in dem Schrank eine Menge Bänder, Schnüre und Nähutensilien, die früher mal jemand sehr ordentlich benutzt haben musste.
Zu meiner Zeit flog in dem Schrank alles durcheinander, ich zog an, was ich in die Hände bekam, und ließ dabei weniger das Wetter als meine Laune Ratgeber sein. Aber was hatte ich auch für Vorbilder? Der Großvater trug sein Blauzeug, das es für Kinder nicht gab, wie ich mich mehrmals versichert hatte. Mein Vater brach den Rekord im Tragen von Kordhosen mit roten Pullovern, und der Reiseritter Robert verreiste immer nur in einem dottergelben Schlafanzug. An meinem sechsten Geburtstag entschied ich mich mittags für eine festliche Garderobe, die sich aus dem unbeirrten Festhalten an der Schlafanzughose und einem weichen Strickwams zusammensetzte, das mir bis an die Knie schlotterte. Im Haar trug ich einen violetten Samtreifen, der durchaus praktischen Nutzen hatte, er hielt nämlich meine Haare beim Gartenkriechen zurück. In der Hosentasche hatte ich ein Pfeifchen, das für einen anderen Jungen geschnitzt worden war und zu meinem Kronschatz gehörte, genau wie die Patronenhülsen und oxidierten Steine, Tonscherben aus dem Garten und eine Münze mit drei Löwen, zum Turm gestapelt. Diese Sachen führte ich in der gleichen Absicht mit mir, wie sich ein Bürgermeister am Feiertag seinen Orden anheftet, es war ein stolzes Ornat.
Später am Nachmittag rief mich der Großvater noch zu den Mangoldbeeten. Zehn Meter Mangold hatten wir für dieses Jahr geplant und in Zweierreihen gesät, die winzigen Blättchen trugen schon die roten Adern, die später zu mächtigen Stielen werden würden. Mangold war das bevorzugte Gemüse auf unserem Hof, ich fand es später erstaunlich, festzustellen, dass niemand sonst diese Einschätzung teilte oder über die Vorzüge der Pflanze Bescheid wusste. Wir machten alles mit Mangold. Der Großvater kochte damit Eintopf, machte ein Mangoldmus, das etwa wie Kartoffelbrei diente, oft gab es auch die Pildauer Version eines Risotto, in dem Reis und Mangold zu gleichen Teilen verrührt wurden, bis wenigstens eines von beiden gar war, seltener auch Salate, und wenn es Pfannkuchen gab, briet er die Mangoldstiele nur kurz an und rollte die rosige Masse ein, rosa Pfannkuchen, so hieß das bei uns. Der Mangold wuchs schnell und war das ganze Jahr und bis zu den ersten Frösten zu ernten, was ihn in den Augen des Großvaters zu einer idealvernünftigen Speisepflanze befördert hatte. Mein Vater mochte ihn, nicht wie ich wegen der rosa Pfannkuchen, sondern weil der Mangold sich nie hängen ließ, seine Blätter sich bis zum Schluss stark um ihren Stiel wölbten und nur sacht aneinanderrieben, für ein einziges zartes Knistern, wenn der Sommerwind in den Garten fuhr. Es gab bei uns roten und gelben Mangold, und im August sahen die Beete aus, als würden sie brennen.
An diesem Tag im April vereinzelten wir die Sprösslinge, damit sie nicht zu dicht aufwuchsen, eine Arbeit, die ich schon so oft gemacht hatte, dass ich sie mit einer Hand erledigte. Das Vereinzeln war eine schöne, etwas traurige Aufgabe, denn man riss ineinander verschlungene Pflänzchen auseinander, die sich gegen den Wind umarmt hatten. »Opa, bin ich vielleicht etwas zu oft vereinzelt worden?« Ich sah das Stottern seines mechanischen Zupfens, sah ein winziges Innehalten, er blickte nicht zu mir herüber, sondern nur auf die lange Reihe Mangoldpflänzchen vor sich. »Jasper, du bist kein Mangold. Du bist auch noch kein Mann, du bist nur ein bisschen Gold«, das sagte er.
So spielten wir also, wenn wir spielten. Die Dämmerung kam früh, auf der Wiese hinter dem Löschweiher stand gegen halb fünf ein
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