Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Du denken kannst, am Bett gesessen und halbhoch aus dem Fenster gesehen hat und dessen Stimme, wenn sie Gutenmorgengeschichten erzählt hat, so schön nach gebrochener Kreide klang, alle zwei, drei Silben. Der liegt in diesem Bett, das Du nicht kennst, und Du kennst ihn nicht, weil ihn ein Lastwagen überfahren hat. Und die Ärzte sagen sehr leise, Dein Vater stirbt, und weil sie es so leise sagen, hörst Du es erst nach einer ganzen Weile, weißt Du? Du gehst also an das Bett, Du suchst die Sommeraugen und den roten Pullover, und nichts ist mehr da, Lada, verstehst Du? Sie haben das schon irgendwo genommen, weil es nicht wichtig war. Und die Lampe beleuchtet den Kopf eines alten Mannes mit einem Licht, das niemanden beleuchten sollte, und dann schalten die Ärzte das Licht aus und gehen aus dem Zimmer. Du bist allein mit Deinem Vater, die Geräte sind schon leise, die Decke über ihm ist schon gefaltet, und darunter wölben sich Dinge, die Du niemals sahst. Dieser schöne Kopf, den Du besser kanntest als alles und in dem es gerade in diesem Moment versickert, die Bücher zuerst, dann die Wörter, der Großwesir, dann die Gesichter und am Ende, Lada, alle Geschichten. Er sagt nichts mehr, und das ist eigentlich das Seltsamste, Du kennst ihn ja, er hätte sich die besten letzten Worte ausgedacht und darüber das Sterben verschoben, aber er kann es nicht mehr. Er dreht den Kopf nicht mehr, egal wie nah Du ihm kommst, egal wie lange es dauert, er dreht ihn nicht mehr.
Und dann stirbt Max Honigbrod, und Du bist dabei. Da gibt es auf einmal keine Brücke mehr, diese eine konnte er nicht mehr bauen. Die Ärzte kommen nicht, nur noch die Schwester, und die ist es, Lada, die ihn zuletzt berührt. Dann sitzt Du auf dem Stuhl, wieder, und die Zeit geht gar nicht mehr, die Uhr hat aufgehört, Uhr zu sein, und in der zeitlosen Stille des ebenerdigen Zimmers weißt Du plötzlich, es gibt nur noch zwei. Nur noch zwei Köpfe, in denen all die Geschichten aufbewahrt sind, nur noch zwei, die alles bezeugen können, was war. Wir zwei, Lada.
Das Ende ist schnell erzählt. Ich konnte ein paar Tage bei Malte sein. Seine Eltern waren ganz weich, sie trugen mir Tee hinterher und Kissen, fragten nichts und hatten so liebe Gesichter, dass es mir unmöglich war, sie anzusehen, ohne gleich wieder zu zerbrechen. Malte bewunderte mich für meine Trauer, und er bewunderte meinen Vater für die Idee, sich während meiner Abiturprüfung von einem Lastwagen überfahren zu lassen, auf derselben Straße, an deren Rändern wir so schöne Dinge gefunden hatten. Nach drei Tagen schon hatte mein Vater ein Kreuz aus hellem Holz, als viertes in einer Reihe von neun Gräbern. Das war nur vorübergehend, sagte ich mir, später würde ich ihn nach Pildau bringen, einen Findling suchen, wie man es immer schon gemacht hatte. Lada und Lene würden mir helfen, und es wäre etwas Richtiges.
Am fünften Tag fuhren sie mich zum Hof. Malte wollte bei mir bleiben, aber ich schickte ihn mit seinen Eltern zurück. Noch nicht. Noch musste ich allein sein und alles abgehen. Vor allem war ich so wund, innen und außen, dass mich jeder andere Mensch fürchterlich rieb. Ich machte einzelne Schritte, ganz in Ruhe, ließ nichts aus. Da war die Stange, der alte Garten, der Erdkeller, da war unser Lager, und da stand eine wunderschöne Maschine in der Scheune, die der Vorgänger des
Original Pildauer
war. Da waren die Birken, und von diesem Ast konnte ich mich fallen lassen, und es würde wirklich gefährlich aussehen. Da war die Küche, und da waren die Kannen, die der Zuckerkaffee dunkel gemacht hatte. Ein bisschen uralten Zucker gab es sogar noch, und die Pfeifentasche des Großvaters lag oben auf dem Schrank. Da war Ladas Zimmer, das ich so gut kannte, und meines, ich musste überall aus den Fenstern sehen. Dieses Buch blätterte ich zu Ende, es war schon viel weiter, als ich es eigentlich zugelassen hätte. Aber Pildau lag, als wäre es der erste Frühsommer. Die Bäume oben am Wald hatten jeder noch sein eigenes Grün, bald, schon bald würde es ein einziges Grün sein. Im Zimmer des Großvaters war alles wie immer. Neben seinem Schrank in der Ecke stand die Angelrute, die er nie mehr benutzt hatte. Sie war sehr leicht. Draußen drehte ich Steine um, unter dem dritten fand ich einen Wurm, und dann noch einen. Am Ende der Schnur war ein rostiger Haken, aber er trug schon noch. Schritt. Schritt. Der Mückenschlupf des Löschweihers hatte zusammen mit den Pollen eine
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