Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
von Lada hörten, und dann war es gar nicht richtig. Malte brachte eines Tages ein Stück der Zeitung in die Schule, die sein Vater immer las, weil der aus Berlin kam. In der Spalte mit den Veranstaltungen wurde dort eine Lada Honigbrod angekündigt, nach dem Komma stand nur noch: Lesung, 20 Uhr. Die Adresse war in Berlin, die ganze Zeitung war aus Berlin. Lada war weit gefahren. Ich zeigte meinem Vater den Ausschnitt, das war ganz nach seinem Geschmack. Er hatte sich erstaunlich schnell mit der Vorstellung abgefunden, dass Lada zwar keine vollendete Internatsbildung erhalten würde, dafür aber jene Reisen machte, die ihm vor langer Zeit als ideal vorgekommen waren. Er hatte in den Wochen vor Maltes Entdeckung immer wieder den alten Globus aus meinem Zimmer genommen und auf die unvollständigen Länderbilder getippt, auf die Orte, an denen sie sein könnte. Es waren natürlich nur die Stellen, an denen er selbst am liebsten gewesen wäre: die Straße von Kertsch, Farö, Sumatra oder in einem Boot auf dem Delaware River, wie einst die Briten bei dem Versuch, die Unabhängigkeitserklärung noch zu verhindern. An all diesen Orten konnte ich mir Lada beim besten Willen nicht vorstellen, aber ich sagte nichts. Der Schmerz über unsere Trennung, denn so nannte ich es mittlerweile, hatte sich so weit in weiche Tücher gelegt, dass an normalen Tagen nichts daran rührte. Sobald ich aber genauer über Lada nachdachte oder sie mir in der Welt ausmalen sollte, ging alles wieder entzwei, und ich lag zwei Tage im Bett, in der Gewissheit, nicht fortleben zu können.
Malte und ich standen am Abend vor Ladas angekündigter Lesung an der Straße, der gleichen Stelle, die sie genutzt hatte, die aber gar keine Stelle war. Nur Lada, nur die Wellenhaare konnten es hier schaffen, ein Auto zum Halten zu bewegen. An Malte und mir zog stundenlang der Verkehr vorbei, sie zeigten uns Zeichen, hupten, manche spuckten sogar. Wir fuhren nicht nach Berlin. Die restliche Nacht hörten wir meine Bänder und bekräftigten uns darin, dass es richtig wäre, alles zu hassen, aber die Musik und Lada immer zu lieben.
Wir suchten nun aufmerksamer nach Spuren von Lada, wir wären sogar mit meinem Vater zu ihr hingefahren, aber dieser Plan offenbarte beinahe zufällig einen anderen Mangel dieser Jahre. Das Geld des Großvaters war aufgebraucht, Pildau war pleite. Mein Vater hatte den letzten bezahlten Auftrag vor Jahren gehabt, und als ich ihn fragte, warum er nicht mit seinem Manuskript von »Das Korn« zu einem Verlag ging und um einen Vorschuss fragte, wie ich es bei Henry Miller und all den anderen gelesen hatte, da sahen die Sommeraugen unter den wuchernden Augenbrauen nur hochmütig zur Seite. Ein Vorschuss, führte er aus, wäre nur etwas für Schreiber, die sich ihrer Sache nicht sicher wären, es wäre eigentlich eine Schande für jede Form der Kunst, sie vorab bezahlen zu lassen, und er, Max Honigbrod, wundere sich wirklich, warum derlei nicht schon in der Bibel stünde.
Das Geld, über das beinahe ein Jahrhundert lang nicht geredet worden und das ausgerechnet jetzt ausgegangen war, ließ den Hof in den nächsten Monaten noch mehr schrumpfen. Wir heizten nur die Küche, sahen ein wenig häufiger nach dem wilden Garten und danach, was er zufällig hervorbrachte, ich pflückte sogar die Himbeeren über den beiden Findlingen. Aber viel Zeit hatten wir beide nicht. Ich lernte auf mein Abitur und hatte zwar angefangen, Gedichte zu schreiben, aber kein großes Talent dafür, auch wenn Malte durchaus lobende Worte fand. Ich wusste, Malte hätte auch auf einem leeren Stück Papier oder in meinen Schreibübungen der ersten Lada-Klasse etwas Großartiges entdeckt. Nichts in meinen Gedichten hatte auch nur annähernd die wilde Kraft von Ladas Zeilen. Ich schickte ein paar davon an eine kleine Literaturzeitschrift, in der dann genau eines von zehn gedruckt wurde, obwohl es doch ein Zyklus war. Eine Ausgabe des Heftes sandte ich an die Adresse von Ladas Lesung, eine Bar, mit der Bitte um Weiterleitung an die Autorin Lada Honigbrod. Mehr hatten wir nicht. Mein Vater schrieb einen Brief an die Lene-Mama und bat um ein wenig Geld, bis sein Manuskript fertiggestellt wäre. Sie wies ihm etwas an und schickte auch einen sehr ehrlichen Brief dazu, in dem zu lesen war, dass sie gern nach Pildau kommen würde, denn diese Absicht seines Schreibens wäre durchaus herauszulesen gewesen, aber sie könnte nicht. Es wäre da etwas eingetreten, eine Sache, die sie
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