Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
gedacht, jedenfalls dass es um Lada ging. Er bewunderte mein Leiden und ließ sich genau vorrechnen, wie lange ich schon in diesem Zustand war. Er fragte, wie viel ich geweint und wie laut ich geschrien hatte, und ich konnte es ihm genau sagen. Dann stellte er einen umsichtigen Plan auf, dessen Grundlage die Drogenkiste war. Bisher hatten wir alles nur sehr vorsichtig genommen. Ein bisschen aufgelöst, ein bisschen geschluckt, ein bisschen geschnüffelt, alles gerade so, dass wir an den Rändern entlangtänzeln konnten. Vieles wirkte gar nicht, manches gleich, und das hatten wir uns gemerkt. Jetzt machten wir ein verlängertes Wochenende, jeden Tag eine andere Droge. Wir fingen mit den bröseligen Radiergummis an, die rauchten wir in Großvaters Pfeife. Die Tür hatten wir mit Büchern verbarrikadiert, in einer Ecke stand Wasser in einem Eimer, wenn wir mussten, erleichterten wir uns aus dem Fenster in den Hof. Mein Vater klopfte am ersten Tag einmal an unsere Tür, wir sangen ihm etwas vor, sehr lyrisch. Am zweiten Tag rieben wir uns das weiße Pulver unters Zahnfleisch, wie ich es bei Burroughs gelesen hatte. Der Tonbandkoffer spielte, bis uns die Bänder entglitten, es war das wirklich keine gute Musikmethode für zwei Jungen, die doch millimetergenau über den Boden robbten und sich ständig ganz genaue Botschaften von der Beschaffenheit der Dinge zuriefen. Am nächsten Morgen waren da ein Kopfweh und eine Trockenheit, wir machten uns über den Wassereimer her wie Vieh, aber es genügte nicht, es waren ja höchstens zehn Liter! Wir rannten zum Löschweiher und hielten die Köpfe in das dunkle, warme Wasser, aber nicht mal in diesem Zustand konnten wir die Schleie sehen, das weiß ich noch genau. Mein Vater war in die Stadt gefahren, um Dollargeld abzuheben und einzukaufen. Pildau produzierte zu diesem Zeitpunkt nichts mehr, keine Karotten, keine Zuckerrüben, keine Bücher, keine Tagebucheinträge, keine neuen Waisenkinder.
Die Tabletten nahmen wir am dritten Tag, nachdem wir den ganzen Nachmittag am Waldrand in der Wiese gelegen waren. Malte nahm eine rote, ich auch. Das Kopfweh verschwand, ganz oben auf der Hofstange, die schwarz gegen die Abenddämmerung stand, war ein Licht oder ein Stern. Wir einigten uns auf Stern. »Hoch mit uns!«, sagte ich, und Malte begriff, er begriff ja alles. Dass wir uns erst ausziehen mussten, um besser am Stamm kleben zu können, dass wir uns sehr langsam und vorsichtig hinaufschieben mussten, wie im Turnunterricht, bis zu der einen von zwei rostigen Stahlklampen, die der Großvater gesetzt hatte, damit man die Plattform erreichte. Ich war als Erster auf dem Holzteller, es war finstere Nacht ringsum, kein Licht, nur das eine, am Ende der Stange. Ich hörte Malte unter der Plattform stöhnen und hakelte ihn über den Rand, er kam mir wirklich winzig vor in meinen Händen. »Sieh nur, wie ich deine Beine halte!«, frohlockte ich, und wir lachten uns glücklich an.
Die Tabletten waren toll, aber wir hatten keine mehr dabei. Unsere Rücken an der Stange, die Füße über den Rand baumelnd, so erwarteten wir eben den Morgen und konnten dabei nicht aufhören, über Lada zu sprechen und wie sie war, oder besser, wie sie wahrscheinlich gewesen ist. Als es Licht wurde, hatte uns mein Vater die Leiter an die Stange gestellt. Ich weiß nicht, ob er unser lautes Gespräch ganz gehört hatte oder erst morgens dazugekommen war, als wir, vor Kälte schlotternd, erwachten. Er erwähnte jedenfalls nie etwas, er gab mir auch nur noch ein Buch, es war
Mars
von Fritz Zorn. Falls ich danach noch lesen würde, kicherte er, dürfte ich einfach aus der Bibliothek nehmen, was ich wollte.
Den vierten Tag unseres Galopps ließen wir also aus, die Fläschchen kannten wir schon, stattdessen las ich Malte aus dem Buch vor, und nach jeder Seite beseelten uns die Wahrheiten des Herrn Zorn mehr. Malte geriet in einen regelrechten Zustimmungstaumel. »Das ist es doch!«, rief er in Richtung der Birken, so lange, bis sie sich unter einem Windstoß schließlich vor ihm verneigten. Wir schworen uns an diesem Tag noch manches. Wer falsch und wen wir niemals, was fehlte und was zu viel, wir wussten das alles in diesen Stunden, und heute schon ist das meiste davon wieder vergessen. Aber das ist nicht wichtig, wichtig ist, dass man es einmal wusste und mit einem anderen besprechen konnte. Man ist sehr bestimmt in dieser Zeit und übersieht dabei trotzdem fast alles.
Es dauerte wirklich ein halbes Jahr, bis wir
Weitere Kostenlose Bücher