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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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Gutenmorgengeschichte längst erzählen müssen. Das alles, was ich jetzt hinter meinem wenig zarten Einstiegssatz folgen ließ. Es war die Schilderung von Ladas zweiter Geburt aus dem Kofferraum des Lada, die ich stockend zwischen ihre Augen aufsagte, in der einzigen Version, die jemals erzählt wurde und die ich mir Wort für Wort gemerkt hatte, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Ich ließ mir Zeit damit, das war das Einzige, was ich tun konnte, um die Einschläge milder zu machen. Sie kam zum Schluss, als das Feuer sich ausgebreitet hatte, ganz nahe, sie starrte auf meinen Mund, aus dem die Worte kamen, und es war mir unheimlich. Die gleiche Träne schlüpfte aus ihrem rechten Auge wie damals, als die Lene-Mama sie so eindringlich nach ihrem Namen gefragt hatte. Eine einzige große Träne.
    »Du lügst«, raunte sie, aber unser Schlucken, die dünnen Eichen und der Großvater auf der Stange, sie alle sagten: Nein, nicht gelogen. Und Lada wusste es. Sie stand auf, es war Juni, der Tag würde noch sehr lange hell sein. Sie stapfte den Hügel hinunter, ich hinterher. An der Stelle, wo es gewesen sein musste, hundert Meter von der Unterführung vielleicht, blieb sie stehen und lief ohne gerade Richtung zwischen Böschung und Weg hin und her. Hier hatten wir nichts gefunden, niemals, hier war nichts. Nur ein paar der flachen Feldsteine, von denen jemand vergessen hatte, sie wieder auf den Haufen zu den anderen zu legen. Lada zog Kreise um die Stelle, nahm einen Stein, trug ihn, sie sah aus wie eine Priesterin mit ihrem komischen Gewand und dunkel murmelnd. Als sie mich wieder ansah, war so wenig Lada übrig, dass ich sofort in eiskalte Not geriet. Ich umarmte sie und entschuldigte mich, ich versprach ihr alles und küsste sie heiß. »Du bist doch eine Honigbrod, mehr als wir alle, Lada, nichts anderes«, flüsterte ich. Sie ließ es geschehen und wies mich nicht ab. Dann aber streckte sie mich auf Armlänge von sich und sagte das zweite Gedicht, das ich von ihr bekam, sie schlug es zurück zwischen meine Augen:
    Geh, Kehlschlag, geh!
    Du bist es nicht.
    Du, nicht ich
    musst
    Straße sein
    oder Wald.
    Also geh, Kehlschlag,
    geh!
    Ihre Worte waren leise, aber es war wieder ein sehr schönes Gedicht, fand ich. Abgesehen vom Inhalt. Der ließ mir nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben, wo sie mich hingestellt hatte, ihr zuzusehen, wie sie die Böschung hinauf verschwand. Dann ging es sehr schnell. Ich hörte ein Auto seine Geschwindigkeit verringern, dann stand es, und eine Tür schlug wenig später zu. Anrollen. Lada fuhr nach Westen.
    Nach ich weiß nicht wie viel später, nach Starre, nach Hochlaufen zur Straße und nach einsamstem Rückweg, erzählte ich es Max Honigbrod. Alles, von ihrer Träne und dem Stein, den sie mitgenommen, dem Auto, das ja auf der Unterführung schon wieder seine alte Geschwindigkeit gehabt hatte, und von dem Gedicht in mein Gesicht. Er nahm mich sacht in den Arm. »Ja«, sagte er nur, und erst nach einer langen Pause ging es weiter. »Ja. Die Lada ist jetzt Dichterin, die muss weg hier, das versteht sich von selbst.« Ich sah uns beide einmal noch in der alten Klarheit hier auf der Schwelle dieser winzigen Küche. Da war die Freude der Schnecken über den verwahrlosten Garten und die Zärtlichkeit des ungestreichelten Mangolds, wie er trotzdem noch jedes Jahr kam und nach dem Großvater sah. Wir würden nichts unternehmen, das sah ich auch. Lada war sechzehn Jahre alt, das war für meinen Vater Volljährigkeit. Außerdem war es eben die Tradition der verschwindenden Frauen von Pildau, an die er glaubte. Ella, Lene, Lada und irgendwie auch meine andere Mutter, jetzt waren sie alle weg.
    Ich weiß nicht, was er den Nonnen zu Ladas Verschwinden sagte, ich weiß von diesem Zeitpunkt an überhaupt nichts mehr sicher, es gibt keine Tagebucheinträge mehr, bis heute, keine Chronik und keine Wetteraufzeichnungen. Ich weiß: Ich musste in ihrem Zimmer sitzen, auf dem viel zu langen Bett, in ihren Büchern lesen, bis ich vor Erschöpfung einschlief, gedreht in ihre alte, erste Decke, und die kratzte gar nicht mehr. Mein Vater sah nach mir, gelegentlich, und schrieb nach den Ferien ein Attest für die Schule, er fälschte es einfach, als Diagnose schrieb er »Kehlschlag« auf den Zettel und schickte ihn ab. Niemand erhob Einspruch. Ich war der Kehlschlag, Lada war es nicht.
    Malte kam irgendwann, um nach mir zu sehen, und als er hörte, was geschehen war, nickte er tapfer. Er hatte sich schon so etwas

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