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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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Orte. Er hatte mehrere Fährten, die sich über die Jahre alle als falsch erwiesen. Es war nicht die fehlende U-Bahn und auch nicht das Minderwertigkeitsgefühl der Kleinstädter, auf das Honigbrod große Hoffnungen gesetzt hatte. Er kam nicht vorwärts, ließ die Sache ruhen, aber die Zahlen blieben unverändert, stiegen sogar noch, und die Krankenkassen setzten das Budget für seine Forschungen noch mal höher. Er sichtete ungeheure Mengen von Krankenakten, es war ihm danach, als würde er die Diagnosen aller Menschen kennen, die ihm in den Städten begegneten. Irgendwo in diesen Krankheiten, in diesen Erschöpfungen und Unruhezuständen lag die Lösung, und sie musste etwas Einfaches sein. Dazwischen schob er andere Arbeiten, aber die Schlaflosigkeit in kleinen Städten begleitete ihn weiter, auch noch, als der Auftrag ausgelaufen war und er nichts als eine vorläufige Annäherung an die Ursache vorstellen konnte, eine Auflistung seiner Vermutungen, von denen sich keine annähernd bestätigt hatte. Diese Niederlage nagte an ihm, und er grub immer weiter. Er erwog sogar, für ein Jahr in eine der Städte zu ziehen, hatte aber Angst, dabei seine neutrale Position einzubüßen. Er ging die Aufzeichnungen seiner Interviews wieder und wieder durch, zählte Gebäude und die Messwerte der Luftverschmutzung, er verglich die Schaufensterauslagen, die Bepflanzung der Grünflächen, suchte in den Grundrissen und Straßennetzen der Städte nach Hinweisen auf eine unterbewusste Störung, ein halbes Jahr rechnete er mit kabbalistischen Formeln die unsinnigsten Zahlen zusammen und auseinander und kam dabei zwar auf interessante Ergebnisse, die aber für nichts von dem standen, was er eigentlich suchte. Abwärme der Gebäude, Erdkrümmung, Intelligenzquotienten der Lokalpolitiker, er ließ nichts unversucht. Seine Regale füllten sich, und je mehr Material dazukam, je mehr er über die kleinen Städte wusste, desto unklarer war alles. Er schrieb einen ausgezeichneten Plan zur gänzlichen Evakuierung von Gießen, das
pars pro toto
einen Monat leer liegen sollte, damit danach eine Neubesiedlung simuliert werden konnte. Als er ihn den Krankenkassen vorlegte, erntete er dafür nichts als Gelächter, es war ganz wie am Anfang bei seiner Studie mit den laufenden Essern. Er hielt fortan den Mund, aber er suchte weiter. Es musste, musste eine Erklärung geben.
    Auf Pildau gingen die Dinge daneben ruhig ihren Weg. Jasper und der Großvater hatten ihre Spiele, der eine wurde älter, der andere jünger dabei. Die Hofstange wurde ordnungsgemäß gelängt, und deswegen ließ die heilige Maria Windpocken und Keuchhusten schnell vorübergehen und auf jeden Winter einen lauen April folgen.

Eichhörnchen und wie alles aufhört
    Auf zehn Briefe von mir schrieb Lada einen. Das war die Quote, die sie ihre ganze Internatszeit durchhielt. Während ich wie ein Chronist alles berichtete, was sich bei uns zutrug, und dazwischen meine Sehnsucht in ausgesucht harmlose Wendungen kleidete, wie etwa »Weißt Du, ohne Dich ist hier das meiste sinnlos«, kam von ihr im ersten Jahr nur eine einzige Karte. Es war eine der Formpostkarten aus schmutzigweißem Papier, und sie war adressiert an Jasper Strich Honigbrod Strich Pildau. Darauf zu lesen waren folgende Zeilen:
    Die Trauer die du fühlst
    ist nur das Eichhörnchen
    das dir fehlt.
    Das schlug und streichelte. Ich weiß nicht genau, was es war, aber ich spürte, dass irgendwo in diesen Worten genau das ausgedrückt war, was ich mit meinen langen Briefen an sie meinte. Es war vernichtend sinnlos erst und dann herrlich komplett. Ich sagte die Zeilen vor mich hin, ich schrieb sie auf die Innenseite meiner Hefte, ich trug sie meinem einzigen Freund in der Schule vor. Er hieß Malte, aber das hatte noch nicht ganz genügt, um ihn zum zweiten Sonderling der Klasse zu machen. Malte hatte einen Sprachfehler, andere Kinder und auch ein paar Lehrer sagten Stammel-Malte zu ihm. Das hatte genügt. Bei mir waren es die ungewaschenen Haare und die bunten Hemden der Sloviks, die ich mittlerweile auftrug, dazu meine komplette Unfähigkeit, irgendetwas aufzubieten, das die anderen nicht lächerlich fanden. Ihr Rennen war nicht mein Rennen, ihre Spiele waren nicht meine, ich war wertlos für all die Andrease, Florians und Stefans. Wie die Körner in der Pfanne eines Goldwäschers wurden Malte und ich deswegen in den ersten Wochen des Gymnasiums nach allen Seiten durchgeschüttelt, und schließlich hatten sie uns beide an die

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