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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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durchdenken und zu spiegeln, dafür brauchte man einen Arbeitsstall, der voll war mit Wissen, man brauchte einen Ort, der nicht mit Neuzeit kontaminiert war und klare Sicht auf die Dinge zuließ. All das hatte Pildau, und dazu einen Ingenieur, der nie studiert hatte, und seinen Sohn, der Brücken bauen konnte, wo andere nicht mal Steine liegen sahen. Außerdem konnte in der Zukunftsforschung niemand mit letzter Sicherheit widersprechen.
    Max Honigbrod wandte sich in der Anfangszeit an Firmen, aber auch an Politiker und Bürgermeister. Er schrieb Konzepte für Stadtplanungen unter Berücksichtung der Magnetschwebetechnologie, die bald alle anderen Beförderungsmittel ersetzen sollte. Er errechnete für Norwegen das zu erwartende Entsorgungsaufkommen der nächsten vierundvierzig Jahre, insbesondere die Rückstände des nicht rottenden Materials, für das er einen sehr großzügigen Faktor einsetzte. Er schrieb über die verachteten Vorteile von Fiberglas und Bakelit, mischte sich in die Debatte um Mikrowellenstrahlung ein und gab ein ganzes Kompendium zum Thema Weltraumtourismus heraus, es war eine Akzeptanzprognose, um die ihn ein amerikanisches Unternehmen gebeten hatte, das zwei Jahre nach Veröffentlichung der Honigbrod’schen Ergebnisse pleiteging. Er arbeitete allein, deswegen zogen sich seine Untersuchungen meistens sehr in die Länge. Wegen ihrer pointierten Niederschrift und den unterhaltsamen Randbemerkungen wurde die Honigbrod-Analyse trotzdem zu einem festen Begriff in den Medien. Es ging so weit, dass aus Pildau jedes Jahr eine Art Universalprognose angefordert wurde, für die Max auf verschiedenen Bereichen die Ist-Zustände zusammenfasste und anhand einiger Fallstudien allgemeine Vorschauen ableitete, die dann in der Woche nach dem Jahreswechsel von Politikern, Professoren und Leitartiklern kommentiert wurden. Für seine Studien war er oft unterwegs, er zog es aber vor, erst zu lesen und seine Prognose aufzustellen und dann vor Ort oder auf den Firmengeländen manche seiner Annahmen zu testen. Versicherungen zählten zu seinen wichtigsten Auftraggebern, er stellte Unfallwahrscheinlichkeiten auf und eine erste Relation zwischen Wochentagen und Unglücken her. Dafür saß er wochenlang in den Archiven, klammerte sich an sein Gespür und sein Gedächtnis, und die beiden ließen ihn meistens nicht im Stich. Einige seiner Ergebnisse verschwanden für immer in den Schränken der Auftraggeber, aber Max scherte sich nicht weiter darum. Er war kein Apostel und kein Wahrheitsverfechter, er ging den Dingen eben so weit nach, wie er mit seinen Mitteln im Dunkeln sehen konnte, den Rest würde die Zeit erledigen, ob es ihn gab oder nicht.
    Wenn ihm ein Auftrag keine Freude bereitete oder die niedrigen Decken und der Ofendampf in Pildau zu eng wurden, fuhr er für ein paar Tage nach Cambridge und streifte durch die Buchhandlungen und Studentenhäuser. Sein Name hatte immer noch einen Klang, und so kam es, dass ehemalige Professoren und Kommilitonen ihn bisweilen um Gastbeiträge baten, er hatte freie Themenwahl. Am liebsten waren ihm in diesen Vorträgen die Biographien exzentrischer Wissenschaftler. Er sprach über den Physiker Gustaf Dalén, der bei einem seiner Experimente erblindete und dann, ohne etwas zu sehen, den genialen AGA -Herd erfand, damit seiner Frau das Kochen leichter wurde. Oder über Eric Kandel und seine Tests mit Meeresschnecken, weil ihm dessen Lebensgeschichte so vertraut vorkam.
     
    So traf er eines Abends Marlene John, und ohne irgendeine Erwartung geschah noch einmal etwas, das kein Zukunftsforscher vorausgesehen hätte. Sie nahm sein Leben und die Einöde, seine Hosen und Pullover mit ruhiger Selbstverständlichkeit, sie rührte nicht an Linda und mochte Jasper. Es war gut. Und als sie drei Jahre zusammen waren, kam der Auftrag mit der Schlaflosigkeit in kleinen Städten. Er beruhte auf den Zahlen einer zufälligen Erhebung, die besagten, dass in Städten unter hunderttausend Einwohnern eklatant mehr Schlafmittel verschrieben wurden. Niemand wusste, warum das so war, niemand hatte es vorher je bemerkt, und nun beauftragte der Krankenkassenverband Max Honigbrod mit einer Studie dazu, es sollte die längste Arbeit werden, aber das wussten beide Seiten noch nicht. Er ließ sich Zeit, zwei Jahre lang besuchte er nur die Städte, saß zwei Tage auf den Bahnhofsvorplätzen und in den Fußgängerzonen. Er sprach mit Ärzten und Patienten, er nahm Bodenproben und suchte nach den Gemeinsamkeiten der

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