Vorn
geschmolzen war. Dann verabschiedete sich einer nach dem anderen, fuhr mit dem Fahrrad davon oder suchte sich
ein Taxi am Rand des Englischen Gartens. Auch die Mitarbeiter der Catering-Firma packten die letzten Kartons zusammen und
sperrten die Halle ab. Tobias, Sebastian und die beiden Fotografinnen blieben noch sitzen. Eine von ihnen, die Torhüterin,
die, wie Tobias im Hellen erst richtig erkannte, wirklich hübsch war, mit leicht slawischen Gesichtszügen, sagte irgendwann,
dass sie und ihre Freundin jetzt auch schlafen gehen würden; ihr Auto draußen auf dem Parkplatz sei ja groß genug. Die vier
gingen langsam Richtung Ausgang, Tobias sah den alten dunkelgrünen Mercedes Kombi, und in diesem Moment konnte er nicht anders,
als den anderen vorzuschlagen, doch noch gemeinsam in die Stadt zu fahren und etwas zu machen. »Kein Problem, gib mir den
Schlüssel«, sagte er zu dem Mädchen. Er fühlte sich jetzt auch wirklich halbwegs nüchtern, und dann fuhren sie in dem angenehm
heruntergekommenen, mit Stativen und Foto-Utensilien vollgepackten Siebziger-Jahre-Mercedes über den Mittleren Ring und den
Tucherpark in die Innenstadt zurück, durch die beinahe leeren Straßen des frühen Samstagmorgens. Sebastian hatte noch gesagt,
dass er auf jeden Fall gleich nach Hause wolle, weil er in ein paar Stunden in Urlaub fliegen würde, und Tobias setzte ihn
vor seiner Wohnung im Lehel ab. Mit den beiden Mädchen fuhr er dann über den Altstadtring und das Isartor weiter Richtung
Zentrum. Die Torhüterin wohnte in Laim, ihre Freundin |249| wollte bei ihr übernachten, doch als sie die Landsbergerstraße entlangfuhren, kurz vor der Donnersbergerbrücke, sagte Tobias:
»Kommt, lasst uns noch zum Starnberger See fahren!« Die Torhüterin, die neben ihm saß, lächelte ihn nur kurz an und sagte:
»Okay, von mir aus. Übrigens, ich bin Jana.« Ihre Freundin auf dem Rücksitz war in der Zwischenzeit eingeschlafen. Tobias
bog links auf den Ring Richtung Garmischer Autobahn, ignorierte die Geschwindigkeitsbegrenzung auf den ersten Kilometern und
war in weniger als zehn Minuten an der zweispurigen Starnberger Ausfahrt. Er schlug vor, nach Percha zu fahren, der ersten
Badestelle von der Autobahn aus. Am Parkplatz, direkt vor dem Ufer, stiegen die beiden aus. Janas Freundin ließen sie schlafen.
Das Rasenstück am See und der malerische Steg, sonst von morgens bis abends vollkommen überlaufen, waren jetzt fast menschenleer.
Nur zwei Rentnerinnen standen auf der Wiese und absolvierten in Badeanzügen mit Blümchenmuster ihre Frühgymnastik. Tobias
nahm Jana in den Arm, sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und gemeinsam gingen sie auf dem in der Morgensonne glitzernden
Holzsteg vor zum Wasser.
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Informationen zum Buch
München, Mitte der 1990er Jahre: Tobias Lehnert hat gerade sein Studium beendet. Doch nun? Wie wird sein Leben weitergehen,
zwischen Konzerten von Punkbands, dem Job in einem Flüchtlingsheim und der vagen Aussicht auf eine Doktorarbeit? Seine Rituale
und Sehnsüchte findet Tobias in den Artikeln der Zeitschrift Vorn wieder, der Jugendbeilage einer großen Tageszeitung. Nach
einigem Zögern schreibt er einen Beitrag über die Magie des Flipperspielens – und ist wenig später fester Autor des Magazins.
Seine Freundin Emily, am Anfang noch angetan von Tobias’ Eintritt in die Redaktion, beobachtet immer argwöhnischer, wie ihn
seine Begeisterung für das Heft mitreißt. Spätestens als er in der Redaktion Sarah kennenlernt, begreift Tobias, dass er in
einer völlig neuen Welt lebt – eine Welt, deren Schauplätze und Freundeskreise mit den alten nichts mehr zu tun haben. Ein
Riss tut sich auf zwischen seinem früheren und seinem jetzigen Leben. Ein brillanter, federleicht geschriebener Roman über
das Jugendmagazin einer großen deutschen Zeitung und das Lebensgefühl in den neunziger Jahren.
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Informationen zum Autor
ANDREAS BERNARD lebt als Autor und Redakteur des SZ-Magazins in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher »Die Geschichte
des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne« und »Das Prinzip. 100 Phänomene der Gegenwart« (zusammen mit Tobias
Kniebe). »Vorn« ist sein erster Roman.
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