Vorn
Stagnation. Er spielte jetzt manchmal mit dem Gedanken, sich
für ein Praktikum bei einer Zeitung oder einem Magazin zu bewerben, und als er beim Erneuern des Büchleins, schon ganz gegen
Ende, auf die Nummer seiner alten Bekannten Uta stieß, fiel ihm ein, dass er ihren Namen gelegentlich in der Tageszeitung
las, |8| auf der Seite mit den lokalen Kulturberichten. Er rief sie sofort an, redete ein paar unverbindliche Sätze zur Begrüßung,
da sie sich schon ein paar Jahre nicht mehr gesehen hatten, und sagte dann: »Du, ich habe mir gedacht, vielleicht könntest
du mir weiterhelfen. Du arbeitest doch bei der Zeitung, und da ich gerade überlege …« Doch weiter kam er nicht, denn Uta fragte mit verwunderter Stimme: »Ich, bei der Zeitung? Wie kommst du denn darauf?« Und
als Tobias sagte: »Na ja, Uta Weber, so verbreitet ist der Name doch auch nicht«, antwortete sie befremdet: »Ich heiße aber
Schuster, erinnerst du dich, Uta Schuster.« Nach der Pause, die durch diesen Satz eintrat, war das Gespräch nicht mehr fortzuführen;
Tobias legte schließlich mit einer verlegenen Entschuldigung den Hörer auf. Er war von der Peinlichkeit des Telefonats eine
Zeitlang noch so eingenommen, dass die Praktikums-Idee wieder in den Hintergrund trat.
Die Tage drohten ihm nun endgültig auszufransen. An einem Vormittag im Juli fand er in der Post einen Brief seines alten Professors,
dessen Oberseminar er noch gelegentlich besuchte. Er schrieb ihm, dass er Tobias an einen Berliner Kollegen weiterempfohlen
habe, der gerade ein neues Forschungsprojekt aufbaue. Ohne jede persönliche Einladung fuhr Tobias nur ein paar Tage später
nach Berlin, um sich das Institut anzusehen, und der leicht überstürzte Aufbruch war wie ein Ausdruck seiner Beunruhigung:
Er wollte, wenn sich schon nichts anderes ergab, zumindest diese vage Gelegenheit ergreifen, um wieder an die Universität
zurückzukehren. In dem Gespräch mit einem Mitarbeiter des Instituts, an einem Freitagvormittag in dem |9| kurz vor Semesterende fast menschenleeren Universitätsgebäude, stellte sich aber sofort heraus, dass längst jemand anderes
für den Posten vorgesehen war.
Ernüchtert saß Tobias nun vor einem Stapel Zeitungen im ICE zurück nach München, nachdem er sich mitten in der Nacht noch
den von Christo verhüllten Reichstag angesehen hatte. Es war ein Montag, der Tag, an dem das
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herauskam. (Hieß es »das«
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, »die«
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? Der Artikel der Zeitschrift war unklar. Es schien, dass sich der Gebrauch nach Geschlechtszugehörigkeit unterschied. Die
männlichen Leser verwendeten überwiegend die neutrale, distanziertere Form; von Mädchen in seinem Bekanntenkreis hatte Tobias
aber schon häufiger gehört, dass sie etwas »in der neuen
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« gelesen hätten.) Das Magazin, das einmal in der Woche als Beilage einer großen Tageszeitung erschien, hatte es zu diesem
Zeitpunkt vielleicht zwei Jahre gegeben. Bei seinem Leserstamm, der, entgegen der offiziellen Bezeichnung als »Jugendbeilage«,
hauptsächlich aus Abiturienten und Studenten bestand, wurde es wie kaum eine andere Zeitschrift verehrt. In einem aktuellen
Kinofilm hatte die Hauptfigur, ein 17-jähriges Mädchen aus einer bayerischen Kleinstadt, ihr gesamtes Jugendzimmer mit Seiten
aus dem
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Magazin beklebt, und man konnte sich gut vorstellen, dass es in vielen Zimmern tatsächlich so aussah. Tobias hatte die Zeitschrift
jeden Montag beim Frühstück durchgeblättert, immer mit zwiespältigem Gefühl: Die Schreibweise der Artikel, gerade in den jüngsten
Ausgaben, übte zwar einen bestimmten Reiz auf ihn aus, doch gleichzeitig war ihm die oft selbstverliebte Haltung der Autoren,
der Ehrgeiz, |10| in Fragen der Pop-Musik oder Mode den Ton anzugeben, nicht ganz geheuer. In seinem Bekanntenkreis gab es eine Fotografin,
die gelegentlich für das
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Magazin
arbeitete, und wenn zwischen ihr und Tobias die Rede auf das Heft kam, gab er meistens ein paar gehässige Bemerkungen darüber
ab.
An diesem Montag aber, auf der Rückfahrt nach München, war es anders. Die
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Ausgabe, die er zwischen den Werbebeilagen in der Tageszeitung fand, war ein Sonderheft über das Thema Liebe, und schon bei
der ersten Geschichte, die er las, spürte Tobias, dass dieses Heft etwas Außergewöhnliches war. Er hatte den Eindruck, dass
hier sein eigenes Leben beschrieben wurde, Rituale und Sehnsüchte, die er von sich selbst allzu gut kannte. In
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