Vorsatz und Begierde (German Edition)
Jetzt ist es noch ein bißchen früh.«
»Ich verstehe nicht, wie es jemals zu früh sein kann, deine Freunde kennenzulernen. Wenn sie dich nach einem Alibi fragen, ist es ja gut, daß du bei ihr warst. Um wieviel Uhr bist du nach Hause gekommen?«
»Ungefähr Viertel vor 11.«
»Das ist eigentlich nicht sehr spät. Du siehst müde aus. Es muß für euch alle in Larksoken ein Schock gewesen sein, ein Mädchen, das du kanntest, eine Verwaltungsangestellte, hieß es im Radio.«
»Ja«, sagte Jonathan, »es war ein Schock. Vermutlich habe ich deswegen auch keinen Hunger. Ich möchte gern noch ein bißchen warten vor dem Supper.«
»Aber es ist alles fertig, Jonathan. Lammkoteletts. Ich habe alles vorbereitet, sie müssen nur noch in den Grill. Und das Gemüse ist schon gar. Das Essen würde verderben.«
»Na schön. Ich brauche höchstens fünf Minuten.«
Er hängte sein Jackett in den Flur, ging in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und starrte zur Decke. Bei dem Gedanken an Essen wurde ihm übel, aber er hatte fünf Minuten gesagt, und wenn er länger liegen blieb, würde sie an seine Tür klopfen. Sie klopfte immer an, sehr behutsam, zwei deutliche, diskrete Klopfer, wie bei einem verstohlenen Tête-à-tête. Was fürchtete sie zu finden, wenn sie unangekündigt eintrat? Er richtete sich auf und schwang die Beine über die Bettkante, wurde aber sofort von Übelkeit und einer Schwäche gepackt, die ihn sekundenlang fürchten ließ, er werde in Ohnmacht fallen. Doch er erkannte, um was es sich handelte: um eine Mischung aus Müdigkeit, Angst und purem Elend.
Trotzdem war es bisher gar nicht so schlimm gewesen. Sie waren zu dritt gewesen: Chief Inspector Rikkards, dann ein stämmiger junger Mann mit ernstem Gesicht, der als Detective Sergeant Oliphant vorgestellt wurde, und ein jüngerer Mann, der in der Ecke saß, anscheinend Notizen machte und den vorzustellen niemand für notwendig erachtete. Für die Vernehmungen hatte man ihnen einen kleinen Raum neben der medizinisch-physikalischen Abteilung zur Verfügung gestellt, in dem die beiden Beamten in Zivilkleidung nebeneinander an einem Tischchen saßen. Im Zimmer roch es, wie immer, ein wenig nach Desinfektionsmittel. Er hatte nie begriffen, warum, denn dort wurden niemals Kranke behandelt. Die beiden weißen Kittel, die noch hinter der Tür hingen, und ein Tablett mit Reagenzgläsern, das jemand auf dem Karteischrank abgestellt hatte, verstärkten den Eindruck von Improvisation und Dilettantismus. Es verlief alles sehr ruhig und sachlich. Er hatte das Gefühl, am Fließband abgefertigt zu werden, als einer von den Dutzenden von Leuten, die die Robarts gekannt hatten oder gekannt zu haben behaupteten, und die durch diese oder eine ähnliche Tür hereingekommen waren, um dieselben Fragen zu beantworten. Fast erwartete er, daß sie ihn baten, den Ärmel hochzurollen, und dann würde er den Stich der Nadel spüren. Das Sondieren, falls es zu einem Sondieren kam, würde später erfolgen. Aber er war überrascht darüber, daß er zunächst überhaupt keine Angst hatte. Irgendwie hatte er sich vorgestellt, die Polizisten wären mit einer fast übernatürlichen Fähigkeit zum Aufspüren von Lügen ausgestattet, und er werde, wenn er diesen Raum betrete, nur allzu deutlich sichtbar an der Last der Schuld, der Tatsachenverdrehung und der Verschwörung zur Behinderung der Justiz tragen.
Auf ihre Bitte hin nannte er Namen und Adresse, die der Sergeant sofort notierte. Dann fuhren sie fast gelangweilt fort: »Würden Sie uns bitte sagen, wo Sie gestern zwischen 6 und halb 11 Uhr abends waren?«
Er erinnerte sich, daß er gedacht hatte: warum 6 und halb 11? Sie war am Strand gefunden worden. Sie ging fast jeden Abend unmittelbar nach den 9-Uhr-Nachrichten schwimmen; das wußten alle, jedenfalls alle, die sie kannten. Und am Sonntag kamen die Nachrichten um zehn nach 9. Dann fiel ihm ein, daß sie genau wissen mußten, wann sie gefunden worden war. Es war noch zu früh für den Autopsiebericht. Aber vielleicht kannten sie die genaue Todeszeit noch nicht oder wollten auf Nummer Sicher gehen. 6 bis halb 11. Aber 9 Uhr, oder kurz nach 9, war zweifellos die richtige Zeit. Er wunderte sich, daß er das so logisch ausrechnen konnte.
»Bis nach dem Dinner war ich zu Hause bei meinen Eltern«, antwortete er. »Vom Mittagessen um 1 Uhr an, meine ich. Dann fuhr ich zu meiner Freundin Miss Caroline Amphlett hinüber, um mit ihr den Abend zu verbringen. Bei ihr blieb ich bis kurz
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