Vorsatz und Begierde (German Edition)
jetzt noch weniger. Aber das konnte er sicher nachprüfen. In London gab es Privatdetektive, Agenturen, die derartige Nachforschungen übernahmen. Dieser Gedanke stieß ihn ab, erregte ihn aber auch. Die Vorstellung, daß er sich tatsächlich mit solchen Leuten in Verbindung setzen und ihnen Geld bezahlen sollte, damit sie Caroline nachspionierten, erschreckte ihn durch ihre Verwegenheit. Das würde Caroline nicht von ihm erwarten, das würde niemand von ihm erwarten. Aber warum eigentlich nicht? Er hatte Geld, er konnte bezahlen. Es war nichts Anstößiges an einer Nachforschung. Zunächst aber mußte er ihr Geburtsdatum in Erfahrung bringen. Das dürfte nicht weiter schwierig sein. Er kannte Shirley Coles, die Bürogehilfin der Personalabteilung. Manchmal glaubte er, daß sie ihn mochte. Sie würde ihn zwar nicht Einblick in Carolines Personalakte nehmen lassen, war aber möglicherweise bereit, ihm eine harmlose kleine Information zu geben. Er konnte behaupten, er wolle Caroline ein Geburtstagsgeschenk machen und nehme an, daß dieser Tag kurz bevorstehe. Mit ihrem Namen und Geburtsdatum vermochte man doch bestimmt ihre Eltern aufzuspüren. Es mußte möglich sein herauszufinden, ob ihre Mutter noch lebte, wo sie wohnte und wie es mit ihren finanziellen Verhältnissen aussah. In der Bibliothek gab es mit Sicherheit ein Exemplar der Gelben Seiten von London, in dem die Privatdetekteien aufgeführt waren. Schriftlich wollte er sich lieber nicht an eine solche Agentur wenden, doch telephonisch konnte er sich eine erste Auskunft erbitten. Falls notwendig, konnte er sich einen Tag frei nehmen und nach London fahren. Ich muß es wissen, sagte er sich. Wenn das gelogen war, ist alles gelogen: der Spaziergang auf den Klippen, alles, was sie mir erzählt hat, selbst ihre Liebe.
Er hörte es zweimal an der Tür klopfen. Zu seinem Entsetzen merkte er, daß er weinte – nicht geräuschvoll, doch mit einem lautlosen Tränenstrom, den er nicht unterdrücken konnte. »Ich komme schon!« rief er laut. Dann trat er ans Waschbecken und kühlte sich das Gesicht. Als er aufblickte, sah er sich im Spiegel. Er hatte den Eindruck, daß Angst und Müdigkeit und eine gewisse Wunde in seiner Seele, die zu tief lag, um zu heilen, ihn all seiner jämmerlichen Selbsttäuschungen beraubt hatten, daß dieses Gesicht, bisher wenigstens durchschnittlich und vertraut, für ihn genauso abstoßend geworden war, wie es für Caroline sein mußte. Er starrte sein Spiegelbild an und betrachtete es durch ihre Augen: das stumpf-braune Haar mit den Schuppen darin, die sich durch das tägliche Waschen nur noch zu vermehren schienen, die geröteten Augen, ein bißchen zu eng stehend, und die feuchte, blasse Stirn, auf der die Akne-Pickel leuchteten wie ein Stigma sexueller Schande.
Sie liebt mich nicht und hat mich nie geliebt, dachte er. Aus zwei Gründen hat sie mich gewählt: weil sie wußte, daß ich sie liebe, und weil sie mich für zu dämlich hielt, um die Wahrheit zu entdecken. Aber ich bin nicht dämlich, und ich werde die Wahrheit entdecken. Mit der kleinsten Lüge würde er beginnen, der Lüge über ihre Mutter. Und was war mit seinen eigenen Lügen, mit der Lüge seinen Eltern gegenüber, dem falschen Alibi bei der Polizei? Und dann die größte Lüge überhaupt: »Ich bin Christ. Daß das nicht immer einfach ist, liegt nahe.« Er war kein Christ mehr, war möglicherweise nie einer gewesen. Seiner Bekehrung hatte nichts weiter zugrunde gelegen als das Bedürfnis, akzeptiert, ernst genommen, als Freund anerkannt zu werden von diesem kleinen Kreis ernsthafter Gläubiger, die ihn wenigstens um seiner selbst willen schätzten. Aber das stimmte nicht. Nichts davon stimmte. An einem einzigen Tag hatte er erkennen müssen, daß die beiden wichtigsten Dinge in seinem Leben, Religion und Liebe, nichts weiter waren als Selbsttäuschungen.
Das zweimalige Klopfen an der Tür klang diesmal dringlicher. »Ist alles in Ordnung, Jonathan?« rief seine Mutter.
»Die Lammkoteletts verbrutzeln!«
»Alles in Ordnung, Mutter. Ich komme sofort.«
Aber es dauerte noch eine weitere Minute, bis er sein Gesicht so weit gekühlt hatte, daß es wieder normal aussah und er gefahrlos die Tür öffnen konnte, um zum Essen mit seinen Eltern zu gehen.
Fünftes Buch
Dienstag, 27. September,
bis Donnerstag, 29. September
33
J onathan Reeves wartete, bis er sah, daß Mrs. Simpson ihren Arbeitsplatz verließ, um Kaffee zu holen; dann betrat er das
Weitere Kostenlose Bücher