Vorsatz und Begierde (German Edition)
vierten und obersten Stock eines rechteckigen, modernen Häuserblocks. Das Wohnzimmer ging nach vorne hinaus und hatte eine Glastür, die auf einen Balkon führte, gerade groß genug für zwei Stühle. Die Küche war klein, mit einem Klapptisch, an dem sie gerade eben zu dritt essen konnten. Es gab nur zwei Schlafzimmer, nach vorn hinaus das seiner Eltern, und sein eigenes, viel kleineres, mit Blick auf den Parkplatz, die Reihe der Schlackensteingaragen und die Stadt. Als Ergänzung für die Zentralheizung verfügte das Wohnzimmer über eine an der Wand befestigte Gasheizung, die seine Eltern nach dem Einzug mit einem blinden Kaminsims umrahmt hatten, damit die Mutter all ihre kleinen Schätze dort aufstellen konnte. Er erinnerte sich noch, daß die Mutter an dem Morgen, als sie die Wohnung besichtigten, auf den Balkon hinausgetreten war und gesagt hatte: »Sieh nur, Vater, als wäre man auf dem Deck eines Ozeandampfers!« Dabei war sie geradezu lebhaft herumgewirbelt, als denke sie an den Stapel alter Filmhefte, die sie aufbewahrte, an die Bilder in Pelz gehüllter Filmstars auf der Gangway, an das mit Wimpeln und Luftschlangen geschmückte Schiff, und höre in ihrer Phantasie das Tuten des Lotsenbootes und die Musik der Band auf dem Kai. Und tatsächlich hatten seine Eltern die Wohnung nach dem vorigen kleinen Terrassenreihenhaus von Anfang an als eine luxuriöse Verbesserung betrachtet. Im Sommer schoben sie die beiden Lehnsessel zum Fenster, damit sie das Meer sehen konnten. Im Winter drehten sie sie um und wärmten sich an der Gasheizung. Doch weder Winterstürme noch drückende Hitze, wenn die Sommersonne auf die Glasscheiben brannte, entlockten ihnen jemals ein Wort der Sehnsucht nach ihrem früheren Leben.
Als der Vater pensioniert wurde, hatten sie ihren Wagen verkauft, und Jonathan benutzte die Garage für seinen gebraucht erstandenen Ford Fiesta. Jetzt eben stellte er ihn hinein und schloß die Tür. Während er sie absperrte, dachte er sich, wie anonym diese Wohnungen doch seien. Fast alle wurden von pensionierten Ehepaaren bewohnt, deren Gewohnheit es zu sein schien, am Vormittag spazierenzugehen, sich zum Nachmittagstee mit Freunden zu treffen und vor 7 Uhr abends wieder zu Hause zu sein. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, lag der Häuserblock totenstill da, und alle Gardinen waren zugezogen. Er fragte sich, ob Caroline erraten oder gewußt hatte, wie anonym sein eigenes Kommen und Gehen war. Vor der Wohnungstür zögerte er, den Schlüssel in der Hand, einen Moment und wünschte, den Augenblick der Begrüßung hinausschieben zu können. Doch längeres Warten würde auffallen; sie lauschten mit Sicherheit auf den Lift.
Die Mutter rannte ihm fast entgegen.
»Ist das nicht furchtbar? Das arme Kind! Dad und ich haben’s in den Lokalnachrichten gehört. Aber wenigstens haben sie den Whistler gefunden. Diese Sorge sind wir nun los. Der wird keine Frau mehr umbringen.«
»Die Polizei meint, daß er vor Miss Robarts gestorben ist«, entgegnete er. »Es ist also möglich, daß es nicht der Whistler war.«
»Aber natürlich war es der Whistler! Sie ist doch genauso gestorben wie die anderen, nicht wahr? Wer sollte es sonst gewesen sein?«
»Das versucht die Polizei festzustellen. Sie waren den ganzen Morgen bei uns im Kraftwerk. Zu mir sind sie erst gegen 12 gekommen.«
»Weshalb sollten sie zu dir kommen? Die werden doch nicht etwa glauben, daß du was damit zu tun hattest!«
»Natürlich nicht, Mutter. Sie vernehmen alle, jeden einzelnen, der sie kannte. Außerdem hab ich ein Alibi.«
»Ein Alibi? Was für ein Alibi? Wieso brauchst du ein Alibi?«
»Ich brauche keins, aber zufällig habe ich eins. Ich habe gestern abend bei einem Mädchen vom Kraftwerk zu Abend gegessen.«
Sofort hellte sich ihre Miene auf, und die Freude über diese Neuigkeit stellte das Grauen des Mordes vollkommen in den Schatten. »Wer hat dich denn eingeladen, Jonathan?« wollte sie wissen.
»Ein Mädchen vom Kraftwerk. Das sagte ich doch.«
»Das weiß ich. Aber was für ein Mädchen? Warum bringst du sie nicht mit nach Hause? Du weißt, daß dies hier ebensogut dein Zuhause ist wie Dads und meins. Du kannst deine Freunde jederzeit mitbringen. Warum bittest du sie nicht am kommenden Samstag oder Sonntag zum Tee? Ich würde alles besonders schön machen, das beste Teeservice deiner Großmutter, ich mache dir bestimmt keine Schande.« Plötzlich tat sie ihm furchtbar leid. Er antwortete: »Eines Tages vielleicht, Mum.
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