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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Berufe aus.
    Manchmal dachte er, wir können doch gar nicht so durchschnittlich, so stumpfsinnig sein, wie wir scheinen, und dann fragte er sich, ob er nicht selbst irgendeinen Defekt hatte, der sie alle so minderwertig erscheinen ließ, ob er in ihnen nicht die eigene Unzulänglichkeit, den eigenen Pessimismus gespiegelt sah. Dann holte er manchmal das Familienalbum aus der Kommodenschublade, das ihm ein unwiderlegbares Dokument ihrer Durchschnittlichkeit zu sein schien: die Eltern in steifer Pose vor dem Geländer der Promenade von Cromer oder im Whipsnade-Zoo, er selbst idiotisch in Doktorhut und Talar bei seiner Schulabschlußfeier. Nur ein Photo interessierte ihn wirklich: die Sepia-Atelieraufnahme seines Urgroßvaters im Ersten Weltkrieg, wie er seitlich, eine riesige Aspidistra in einem Benares-Topf neben sich, auf einer künstlichen Mauer saß. Über eine Distanz von vierundsiebzig Jahren hinweg betrachtete Jonathan den empfindsam wirkenden Jüngling mit dem sanften Gesicht, der in der schlechtsitzenden, hoch zugeknöpften Serge-Uniform und der grotesk überdimensionalen Mütze eher wie ein verwaistes Fürsorgekind aussah als wie ein Soldat. Er mußte noch unter zwanzig gewesen sein, als das Foto gemacht wurde. Er hatte Passendale und Ypern überlebt und war Anfang 1918, verwundet und gasvergiftet, entlassen worden; ihm blieb gerade noch genügend Kraft, um einen Sohn zu zeugen. Dieses Leben, sagte sich Jonathan, konnte nicht durchschnittlich gewesen sein. Sein Urgroßvater hatte vier entsetzliche Jahre überlebt – voll Tapferkeit, Durchhaltevermögen und einer stoischen Hinnahme dessen, was ihm sein Gott oder das Schicksal zugeteilt hatte.
    Aber auch wenn es nicht durchschnittlich gewesen war, so schien dieses Leben heute für absolut niemanden mehr von Bedeutung zu sein. Es hatte für den Fortbestand einer Familie gesorgt, nichts weiter. Und was konnte daran schon wichtig sein? Auf einmal aber wurde Jonathan klar, daß das Leben seinem Vater einen ganz ähnlichen Stoizismus abverlangt haben mußte. Man konnte fünfzig Jahre bei Hobbs & Wainwright vermutlich nicht mit vier Jahren Frankreich vergleichen, doch beide hatten dieselbe würdevolle und stoische Hinnahme erfordert. Er wünschte sich, mit seinem Vater über den Urgroßvater und über die jungen Jahre des Vaters selbst sprechen zu können. Doch dazu schien sich nie eine Gelegenheit zu bieten, und was ihn davor zurückhielt zu fragen, war weniger angeborene Schüchternheit als die Furcht, daß er, selbst wenn er diese seltsame Mauer der Distanziertheit und Sprachlosigkeit durchbrach, dahinter überhaupt nichts finden würde. Und doch war es bestimmt nicht immer so gewesen. Er erinnerte sich an Weihnachten 1968, als sein Vater ihm das erste naturwissenschaftliche Buch schenkte: The Wonder Book of Science for Children. Am Weihnachtsmorgen hatten sie stundenlang zusammengesessen und langsam eine Seite nach der anderen umgeblättert, während der Vater zuerst vorlas und dann erklärte. Dieses Buch besaß er noch immer. Und betrachtete auch gelegentlich noch die Zeichnungen. »Wie das Fernsehen funktioniert«, »Was geschieht, wenn wir geröntgt werden«, »Newton und der Apfel«, »Das Wunder der modernen Schiffe«. Und der Vater hatte gesagt: »Wenn alles anders gekommen wäre, so wäre ich gern Naturwissenschaftler geworden.« Das war das einzige Mal in Jonathans Leben, daß sein Vater andeutete, er hätte es besser haben können und sie alle hätten ein erfüllteres, ein anderes Leben führen können. Aber es war nicht anders gekommen, und nun wußte Jonathan, daß sie es nie besser haben würden. Wir alle müssen unser Leben unter Kontrolle haben, dachte er sich, und darum reduzieren wir es, bis es so klein und schäbig ist, daß wir es unter Kontrolle zu haben glauben.
    Nur einmal war die berechenbare Routine ihrer Tage von einem unerwarteten, dramatischen Ereignis unterbrochen worden. Kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag hatte sein Vater den Morris der Familie genommen und war verschwunden. Drei Tage später wurde er gefunden: Er saß im Auto oben auf Beachy Head und blickte aufs Meer hinaus. Es hieß, daß er vor Überarbeitung einen Nervenzusammenbruch erlitten habe, und Mr. Wainwright gab ihm zwei Wochen Urlaub. Sein Vater hatte niemals erklärt, was geschehen war, sondern die offizielle Meinung gelten lassen, es handele sich um eine vorübergehende Amnesie. Seine Eltern hatten den Zwischenfall nie wieder erwähnt.
    Die Wohnung lag im

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